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Liebe und Verrat - 2

Liebe und Verrat - 2

Titel: Liebe und Verrat - 2
Autoren: Michelle Zink
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1
    Vor mir liegt das Buch. Ich muss die Prophezeiung nicht lesen; ich kenne sie auswendig, Wort für Wort. Sie hat sich so fest in meinen Geist gebrannt wie das Mal auf meinem Handgelenk in mein Fleisch.
    Aber es ist irgendwie beruhigend, das uralte Buch mit dem rissigen Einband in die Hand zu nehmen, das mein Vater vor seinem Tod in der Bibliothek versteckte. Seine Festigkeit ist tröstlich. Ich schlage es auf, und mein Blick fällt auf das Stück Papier, das zwischen den Buchdeckeln liegt.
    Acht Monate sind vergangen, seit Sonia und ich in London eintrafen, und in dieser Zeit habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, die Worte der Prophezeiung als eine Art Bettlektüre zu lesen. In diesen stillen Stunden ist Milthorpe Manor unendlich friedlich. Ich sitze in meinem Zimmer am Schreibtisch. Das Haus schweigt, die Dienerschaft schläft, ebenso wie Sonia in ihrem Zimmer am anderen Ende des Flurs. In diesen Stunden fahre ich mit meinen Bemühungen fort, die Worte der Prophezeiung zu entschlüsseln, die James so sorgfältig aus dem Lateinischen übersetzt hat. Ich hoffe, irgendeinen neuen Hinweis zu finden, der mich zu den verloren gegangenen Seiten führt. Und der mir die Freiheit schenkt.
    An diesem Sommerabend zischt das Feuer nur leise im Kamin. Ich beuge den Kopf über die Seite und lese – erneut – die Worte, die mich unlösbar an meine Schwester, an meinen Zwilling binden, und an die Prophezeiung, die uns unüberwindbar trennt.
    In Krieg und Eintracht erduldete die Menschheit ihr Schicksal
    Bis die Wächter kamen
    Die Frauen der Menschen zu Gemahlinnen und Geliebten nahmen
    Und sich so Seinen Zorn zuzogen.
    Zwei Schwestern, erschaffen in demselben wirbelnden Ozean
    Die eine der Wächter, die andere das Tor.
    Die eine Hüterin des Friedens, die andere Hexenkraft für Hingabe eintauschend.
    Ausgestoßen aus dem Himmel, gingen ihre Seelen verloren.
    Doch die Schwestern fahren fort mit ihrer Schlacht
    Bis die Pforten ihre Rückkehr einfordern
    Oder der Engel die Schlüssel zum Abgrund bringt.
    Durch die Pforten schreitet die Armee.
    Samael, das Untier, durch den Engel.
    Der Engel, bewacht nur durch einen zarten Schleier.
    Vier Zeichen. Vier Schlüssel. Ein Kreis aus Feuer.
    Erschaffen in dem ersten Atemzug von Samhain
    Im Schatten der Mystischen Steinschlange von Aubur.
    Wenn das Tor des Engels sich ohne Schlüssel öffnet
    Folgen die Sieben Plagen und es gibt kein Zurück.
    Tod
    Hungersnot
    Blut
    Feuer
    Dunkelheit
    Dürre
    Zerstörung
    Öffne deine Arme, Herrin des Chaos, auf dass die Verwüstung des Untiers sich in Strömen ergießen kann.
    Denn alles ist verloren, wenn die Sieben Plagen beginnen.
    Es gab eine Zeit, als diese Worte mir nichts bedeuteten. Als sie bloß eine Legende zwischen zwei Buchdeckeln waren, die in Vaters Bibliothek vor sich hin staubte. Aber das war, bevor ich die erwachende Schlange auf meinem Handgelenk bemerkt hatte, vor knapp einem Jahr. Bevor ich Sonia und Luisa traf, zwei der vier Schlüssel, gezeichnet wie ich. Mit einem Unterschied.
    Nur in meinem Zeichen prangt in der Mitte der Buchstabe C. Nur ich bin der Engel des Chaos, das unwillige Tor, das meine Schwester – ebenso unwillig – bewacht. Unsere Rollenverteilung ist keine Laune der Natur, sondern das Ergebnis unserer Geburt. Dennoch kann nur ich entscheiden, ob ich Samael verbannen werde. Für immer.
    Oder ob ich ihn beschwöre und das Ende der Welt, wie wir sie kennen, herbeiführe.
    Ich schließe das Buch und dränge die Worte aus meinen Gedanken. Es ist schon spät, zu spät, um über das Ende der Welt nachzudenken. Zu spät, um über meine Rolle nachzugrübeln, über die Möglichkeit, all dem ein Ende zu bereiten. Die Last der Prophezeiung hat mich gelehrt, den Schlaf und seinen einzigartigen Frieden hoch zu schätzen, und so stehe ich vom Schreibtisch auf und schlüpfe unter die Decke des mächtigen Himmelbetts, das in meinem Zimmer in Milthorpe Manor steht.
    Ich lösche die Lampe auf meinem Nachttisch. Der Raum wird jetzt nur noch durch das sanfte Glühen des Feuers erhellt, aber die Düsternis eines nächtlichen Zimmers ängstigt mich nicht mehr so wie früher. Jetzt ist es das Böse, das sich hinter dem Schönen, dem Vertrauten verbirgt, das mir das Herz erzittern lässt.
    Es ist lange her, dass ich das Reisen mit den Schwingen für einen einfachen Traum gehalten habe, aber diesmal kann ich – trotz meiner mittlerweile ausgiebigen Erfahrung – nicht sagen, ob mich der Schlaf in einen Traum oder in die Anderswelten
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