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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Autoren: Catherine Banner
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keine Ahnung, wie sehr du leidest«, sagtest du. »Ich war so weit von der wirklichen Welt entfernt, dass ich kaum etwas sehen konnte. All die Kämpfe, die du und deine Großmutter durchgemacht haben, seit Sti r ling – «
    Es ist nicht deine Schuld, schrieb ich auf den Rand der Zeitung. Wir können dir keine Vorwürfe machen, weil du verbannt wurdest.
    »Ich selbst mache mir Vorwürfe. Ich war immer in e i ner gefährlichen Situation, bis das passierte, was sich schon seit langer Zeit angekündigt hatte. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Margaret allein zurückbleiben würde, oder dass du …« Du hast mich angesehen, als wäre ich dein eigener Sohn. »Wenn ich nur hier gewesen wäre …«
    Dann wollte ich nicht länger darüber reden. Erzähl mir von dem Buch.
    Du bist zum Fenster gegangen und hast von dort aus mit mir gesprochen, ohne dich umzudrehen. »Diese G e schichten – die Geschichten, die du in das Buch g e schrieben hast – waren die Dinge, die ich versuchte, dir zu zeigen. Ich war weit weg, abe r i ch dachte, dass es dir und Stirling gefallen würde, in ein anderes Land zu bli c ken. Man könnte es ein englisches Märchen nennen. Ich wol l te auf diese Weise mit euch sprechen.« Du hast den Kopf geschüttelt und traurig gesagt: »Vielleicht war es nutzlos. Ich habe euch alle im Stich gelassen – ich hätte hier sein müssen. Das Einzige, was ich tun konnte, war zu vers u chen, euch zu zeigen, wie mein Leben aussieht. Und ich habe dir die Worte nicht eingegeben. Die Worte sind de i ne eigenen.«
    Ich schlug das Buch auf und sah mir die Handschrift jetzt genauer an. Es war zur Hälfte meine, zur Hälfte die von jemand anderem. So wie meine eigene vor langer Zeit, als ich noch zur Schule gegangen war, schnitt sie tief in das Papier ein, aber gleichzeitig fiel sie nach vorne schräg ab.
    »Hier«, hast du gesagt und dann selbst ein paar Worte auf den Rand der Zeitung geschrieben. Die abfallende Schrift war deine.
    »Warum hast du es weggeworfen, Leo?«
    Ich dachte darüber nach. Was bedeutete mir ein engl i sches Märchen noch?, schrieb ich schließlich. Ich dachte an Marias Frage. War es real? Sind diese Dinge wirklich in England passiert?
    Du hast mit den Achseln gezuckt. »Ich weiß es nicht. Es ist schwer zu erklären. Fängt nicht alles an, wie ein Traum zu wirken, nachdem es vergangen ist?«
    Ich schüttelte den Kopf. Nicht für mich. Für mich war das Vergangene noch immer hier. Es war nicht tot und verschwunden. Die Nacht, in der ich Ahira erschoss; der Moment, als ich zurückkam und Stirling so still in se i nem Bett lag; Großmutter mit Schlamm auf dem Gesicht, wie sie nicht aufhören konnte, zu weinen. All diese Di n ge waren real. Genau wie die Tage davor – die Tage, an denen unser Leben noch in Ordnung war. Als wir zu de i nem falschen Grabstein liefen und die Sonne auf den O s ten der Stadt herabschien; oder der Tag mit Maria und Stirling und dem Baby im Wohnzimmer, als wir uns überlegten, ein Picknick zu machen. Diese Dinge waren immer noch real.
    Nachdem du bei Einbruch der Dunkelheit gegangen warst, griff ich wieder nach dem Buch und schrieb we i ter. Du hattest mich gebeten zu erklären, und ich hatte etwas angefangen, mit dem ich nicht mehr aufhören konnte.

 

     
    M aria geht jede Woche zur Beichte. Sie hat mir einmal ge sagt, dass ich auch hingehen sollte. Sie wusste nicht, was ich getan hatte, aber sie spürte, dass da etwas war. Sie hatte es immer gespürt. Ich ging nie hin, um in der dunklen Kirche zu knien und meine Sü n den zu bereuen. Stattdessen schrieb ich in dieses Buch – ich schrieb, bis es zu dunkel war, und stand am nächsten Morgen wi e der auf, um weiter zuschreiben. Ich schrieb sogar noch weiter, nachdem der Winter eingesetzt hatte und dann den Frühling hindurch und bis in den näch s ten Sommer hinein. Jedes Mal, wenn mir der Platz ausging, blätterte ich zur nächsten le e ren Seite vor. Ich las nicht, was ich geschrieben hatte. Ich machte einfach weiter. Ich zählte die Tage anhand der Worte, die ich schrieb, und lernte zu überl e ben.
    Ich schrieb selbst dann noch weiter, nachdem du längst alle Hoffnung auf eine Erklärung aufgegeben und aufgehört hattest, mich danach zu fragen; selbst nac h dem jeder akzeptiert hatte, dass ich nicht sprach. Alles fand seinen Weg in dieses Buch – die alten Zeilen, die ich Stirling vorgelesen hatte; die letzten Träume, die ich noch einmal aus meiner Erinnerung aufschreiben mus s te; mein eigenes Leben. Aldebarans
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