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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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eins
    19. Januar 2004, Virgental / Österreich, 14.05 Uhr. In Ermangelung einer Schneebrille und halbwegs vernünftiger Handschuhe gab es nur zwei Möglichkeiten – oder eigentlich drei. Ich konnte für wenige Minuten meine Hände schützend vor das Gesicht halten, um zwischen den kleinen Spalten hindurchzuspähen, was den Effekt hatte, dass ich nach relativ kurzer Zeit die Hände abermals in meine zu engen Hosentaschen schieben musste und dabei Gefahr lief, die schwer unterkühlten Finger glattweg abzubrechen. Ich konnte die Hände gleich in den Taschen stecken lassen und versuchen, mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenem Kragen den entgegenkommenden Eiskristallen zu trotzen, in der Hoffnung, dass sich einer dieser kleinen Flugkörper nicht direkt in mein Auge bohrte. Oder ich ging einfach rückwärts, was aufgrund der katastrophalen Sicht ohnehin fast keinen Unterschied machte.
    Es war bitterkalt und der Schnee wehte waagrecht über die Berghänge herab. Der Wind, so schien mir, blies aus allen erdenklichen Richtungen. Er strich vom Felbertauern entlang der Nordseite des Virgentals. Manchmal hatte ich das Gefühl, er kam direkt von der anderen Richtung, von den Umballfällen, und zog Richtung Matrei. Dann und wann schien es, als würde er sich ausruhen, um anschließend noch stärker aus einer nicht vorhersehbaren Richtung abermals loszuheulen. Trotzdem musste ich lächeln. Ich hatte ihn lieb gewonnen, den Wind. Er war mein Freund. Ich mochte ihn und er war ein fast ständiger Begleiter meiner unterschiedlichen Lebensphasen geworden, egal wann und wo ich mich gerade aufhielt. Vor vielen Jahren, als ich noch als junger Polizist und Student Segelflugzeuge in den frühen Vormittagsstunden über Nadelwälder lenkte, war es die Thermik, die mir so herrlich zupasskam und mich mit meinem Segelflugzeug höher und höher nach oben trieb. Später dann, als ich unbedingt Motorflugzeuge fliegen wollte, war es der Windsack, der mir anzeigte, aus welcher Richtung mein Freund blies und mir die nötigen Informationen gab, ob ich nun die 10- oder 15-Grad-Klappen ausfahren musste, um die zu übende Punktlandung durchzuführen. Und nochmals Jahre später, als ich in meinem fast grenzen losen Ehrgeiz, alles ausprobieren zu wollen, was einen Menschen in der Luft halten konnte, mit einem kleinen Helikopter durch ein paar Alpentäler donnerte, war es abermals mein Freund, der die Rotorblätter zum Knattern brachte. Er hatte mir mit den kleinen grünlich-weißen Blättern einer herrlichen Platanenallee in der Nähe einer großen Maßregelvollzugsanstalt in Nordrhein-Westfalen eine unglaubliche Symphonie gespielt. Ich hatte ihn gespürt, als er ganze Gruppen von Nadelbäumen im nördlichen Waldviertel in Österreich hin und her bog und teilweise ein so schönes Rauschen erzeugte. Ich nahm ihn wahr, als er beim Morgensport in der FBI-Akademie in Quantico im Herbst mit den Blättern spielte, und ich hörte plötzlich wieder das regelmäßige Klappern von kleinen Stahlseilen an hohen Aluminiummasten angebundener Segelschiffe in Marseille.
    Der Wind ist mein Freund, man kann ihn nicht greifen und er ist in der Regel auch vollkommen lautlos. Es sind meist die Gegenstände, die er berührt, mit denen er spielt, die dann, sich bewegend, einen Klang, einen Ton, ein Rauschen, ein Pfeifen oder aber auch ein tiefes Brummen erzeugen. Das Bild, wo der Wind mit der Bibel spielte, die auf dem schlichten Holzsarg von Papst Johannes Paul II. lag, ging um die Welt und jeder, der dieses Bild sah, egal welche Sprache er sprach, ob er nun traurig oder glücklich, reich oder arm, alt oder jung war, konnte erkennen, dass es der Wind war, der hier eine kleine Botschaft hinterließ. Aber niemand konnte ihn sehen.
    So mochte ich ihn auch an diesem Tage, obwohl er mir das Leben nicht leicht machte. Aber ich stemmte mich ihm entgegen und hatte dabei gleichzeitig das Gefühl – so kindlich das auch klingen mag –, dass ich nicht allein war. Mein grobes Schuhwerk versuchte Halt zu finden, was schwer war, denn die Wege waren stark vereist. Teilweise hatte mein luftiger Freund kleine Schneezungen auf der steilen Straße gezeichnet, die er dann und wann zu kleinen Wechten anwachsen ließ. Andere wiederum löschte er einfach aus und fegte die abertausend kleinen, weißen, gefrorenen Bausteinchen ziellos in die damit gänzlich bedeckten angrenzenden Felder und Wiesen. Der ansteigende Weg, der eisige Untergrund, auf dem mein Schuhwerk zurückglitt, der dicke
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