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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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Marmortafel erinnerte daran, dass in diesem Teil Europas während des 2. Weltkrieges keine Bomben gefallen waren. Irgendwie kam mir mein ganzer Auftrag plötzlich wie eine kleine Reise vor. Ich hatte ja nur deshalb den Zug genommen, um mich noch einmal gedanklich auf ihn einzustellen, alle Punkte nochmals durchzugehen, um kurz vor der Anfahrt auf den Hauptbahnhof von Genf in meiner eigenen Selbstsicherheit festzustellen, dass es sehr wahrscheinlich ein Gespräch wie viele andere werden würde.
    Mir war plötzlich, als ob die Eindrücke der Zugfahrt vom Genfer Flughafen zum Hauptbahnhof geradezu symbolisch für diesen gesamten Auftrag waren. Die parallele Gleisführung entlang der Autobahn, das Hinweisschild Richtung Frankreich in die eine Seite und 61 km nach Lausanne in die andere waren für mich wie eine Symbolik der Geschwindigkeit und der internationalen Ausrichtung, zumal der Hauptteil dieses Falles sich ja außerhalb Europas abspielte. Die durchnummerierten Betonsilos 42, 44, die sich plötzlich in Fahrtrichtung rechts von mir zeigten, waren für mich die Metapher jener undurchsichtig und streng geschützten geheimen Kammern, aus denen mein vermutlich abendlicher Gesprächspartner Dinge entnommen hatte, die ihm nicht gehören. Ein Busparkplatz, der plötzlich links von mir auftauchte, erinnerte mich daran, dass es um viele, ja sogar um sehr viele Menschen ging, die an diesem Fall beteiligt waren, ohne dass sie es bisher wussten. Neuerliche Betonsilos. 10, 20, 14, 15. In wie viele Kammern war er eingedrungen und hatte Dinge entwendet, die so schwer wogen, wie kein Gold wiegen kann! Hatte sich Fakten bemächtigt, die alleine betrachtet zwar gefährlich, aber noch nicht existenzbedrohend waren. In ihrer Summe und in ihrer Kombination stellten sie jedoch eine unheilvolle, giftige Mischung dar, die selbst die Tochter von Papst Alexander VI., Lu crezia Borgia, vor Neid hätte erblassen lassen.
    Der lange Tunnel war für mich das beste Beispiel für die Ausweglosigkeit eines Menschen, der offensichtlich im Laufe seines beruflichen Lebens in eine Situation geraten war, wo er kein Licht mehr sah. Es mussten viele Kleinigkeiten passiert sein in seinem Leben, dass er tatsächlich dazu übergegangen war, in das Heiligste einzudringen, was nicht nur der Firma, sondern sehr lange auch ihm als das Unantastbarste galt. Wie viel Demütigung, Neid, vor allem aber falsch verstandene Kommunikation musste in diesem Fall zusammengekommen sein, dass er gerade mit jenen Dingen fahrlässig, ja geradezu hasardeurhaft umging, die für ihn jahrelang das Wichtigste darstellten: Datenbanken.
    Selbst die Geschwindigkeit des Zuges, der sich langsam dem Genfer Hauptbahnhof näherte, fügte sich dramaturgisch in die Metapher ein. Es wurde nicht plötzlich finster, sondern langsam und schleichend. Er hatte mit Sicherheit nicht eines Tages beschlossen, das Heiligste aller seiner Heiligtümer aus der sicheren Verwahrung herauszunehmen, um es dem Gespött der Allgemeinheit preiszugeben. Nein, auch bei ihm musste es langsam dunkel geworden sein. Schleichend, zunächst kaum merkbar, obwohl er sich vielleicht bereits in seinem eigenen Tunnel befand, ohne dass er es zunächst wahrnehmen konnte. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er irgendwann einmal festgestellt, dass die Richtung die falsche war. Er versuchte sicher gegenzusteuern, hatte Bemerkungen, Eingaben und Ideen eingebracht, aber vielleicht hatte man „es ja immer so gemacht“ – und die starren Schienen, auf denen ich mich zurzeit bewegte, waren das beste Beispiel für festgelegte Wege, die manchmal die einfachste Erneuerung zunichte machen können. Irgendwann musste es um ihn herum finster geworden sein. Rat und Hilfe suchend war er vielleicht in sich gegangen, bis sich die eigene Identifizierung mit seinem Betrieb plötzlich in Ablehnung, dann in Hass und schließlich in Gleichgültigkeit verwandelte. Aus der Gleichgültigkeit wurde für ihn die fehlende Identifizierung, und damit war das Heiligste nicht mehr das Heiligste, sondern ein Mittel zum Zweck.
    Plötzlich wurde es mit einem Schlag wieder hell und beidseitig säumten die Fahrtstrecke des Zuges regelmäßig angeordnete Betonwälle, die von unzähligen Graffitis übersät waren. Ja, die Wände waren so voll damit, dass ich das Gefühl hatte, kein Quadratzentimeter wäre verschont geblieben von den teilweise wirren und chaotischen Gedanken der Maler und Sprüher. Ich fragte mich ernsthaft, ob die Schweizer Bundesbahn das nicht
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