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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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Pullover, die schwere pelzige Kopfbedeckung, aber vor allem meine innerliche Unruhe ließen mich schwer keuchen. Ich keuchte nicht nur, sondern ich schwitzte auch, trotz der eisigen Temperaturen und abermals: Es war nicht nur die dicke Kleidung und meine fast hektisch laufende, humpelnde Bewegung, die mir das Wasser aus so vielen Poren drückte. Nein, es war geradezu eine fiebrige Wahnvorstellung, dass ich den Ort nicht finden würde. Den Ort, den hier zwar jeder kannte, aber das Ereignis, das sich dort abspielen sollte, wollte keiner so wirklich in Worte fassen. Jeder hatte eine andere Interpretation dafür. Jeder wusste ein bisschen, aber keiner wusste alles. Es muss ein Ereignis des Schreckens und des Entsetzens gewesen sein. Ein Mahnmal für jeden vernünftig denkenden Menschen, und würde das Ereignis eine Stimme, einen Ton bekommen, würde es wahrscheinlich alles übertönen. Das entsetzliche Wimmern, die flehentlichen Rufe, die jammernden, zusammenhanglosen Worte, bis schlussendlich das entsetzliche Geschrei des Opfers alles andere nur da Gewesene um das Tausendfache überstimmt. Selbst wenn mein Freund sich von der Brise zu einem kleinen Sturm und schließlich zu einem peitschenden Orkan mit jaulenden Böen emporgearbeitet hätte, er wäre machtlos gewesen gegen die Stimme des sterbenden Kindes.
    Ich hatte in meiner beruflichen Tätigkeit Hunderte von Tötungsdelikten bearbeitet, analysiert, wissenschaftlich untersucht oder als Sachverständiger vor Gericht befundet und begutachtet. Vielleicht war es auch schon eine vierstellige Anzahl. Eine weitaus kleinere Anzahl von Sexualdelikten, Nötigungen, Schändungen und sexuellen Missbrauchsfällen für diverse Justizbehörden, in- oder ausländische Polizeidienststellen aus kriminalpsychologischer Sicht analysiert, um ausschließlich eine Hilfestellung für jene anderen Organe der Strafrechtspflege zu geben, die sie unter Umständen gebraucht hatten. Aber die komplexesten Fälle, die trotz der zwanghaftesten Einhaltung sämtlicher psychologischer Regeln immer noch zu den kompliziertesten und am wenigsten nachvollziehbarsten zählten, waren jene Delikte, wo sich die Täter Kinder als Opfer ausgesucht hatten. Die Schwächsten der Schwachen in der Gesellschaft. Jene, die sich am wenigsten wehren konnten. Jene, die dem diabolischen Grinsen manch Erwachsener noch freundlich gefolgt waren, weil sie es fälschlicherweise für ein Lächeln hielten. Jene, die der Täuschung und Tarnung deswegen erlegen waren, weil sie in ihrem jungen Leben noch nicht die Chance hatten, Vergleichswerte dagegenzustellen. Jene, die einfach Schmerz, Schmach und Schande über sich ergehen lassen mussten, in der Hoffnung, dass es bald vorbei wäre, um später, wenn sie als Mädchen geboren wurden, sich selbst zu schädigen, und wenn sie als Junge das Licht der Welt erblickten, im Erwachsenenalter andere zu schänden.
    Denn jedes Mal, wenn ich einen derartigen Fall analysierte, war mir Folgendes klar: Wenn das Gericht ein irdisches Urteil über den Täter fällte und man für Monate oder Jahre verhinderte, dass er abermals schändete, missbrauchte, vergewaltigte oder tötete, waren dadurch gleichzeitig die Opfer, die in diesen Verfahren teilweise noch als Zeugen erschienen, mit Sicherheit für ihr Leben gezeichnet und würden ohne fremde massive Hilfe später sehr wahrscheinlich selbst zu Tätern werden. Ich war in der Tat nicht so naiv zu glauben, dass diese Form der Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft vor irgendeiner sozialen Schicht, geografischen Örtlichkeit, einer Jahreszeit oder einem kirchlichen Feiertag Halt machen würde. Aber dass eine derartig nackte Gewalt sich bis an den entlegensten Ort, an dem ich mich nunmehr befand, fortgepflanzt hatte, das war jener Punkt, der mich in den nahezu wahnhaften Zustand versetzte, dass ich so rasch wie möglich Zeuge dieser Untat werden wollte. Einmal in meinem Leben wollte ich rechtzeitig kommen, um etwas zu verhindern; einmal wollte ich es mit eigenen Augen sehen, um eingreifen zu können.
    Ich hastete und quälte mich weiter, rutschte aus, fiel hin und gelangte endlich zu jener Anordnung von Holzhäusern, die man mir immer wieder genannt hatte. Die Hände waren zwischenzeitlich bläulich, weiß und rot, weil ich mich fortwährend abstützen musste. Die Fellkappe, der Kragen, meine Wimpern und auch die Bartstoppeln mit Schnee bedeckt, hastete ich zwischen den Holzhäusern hindurch. Alte übereinander geschichtete Balken, wo jeder von
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