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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE
Autoren: Thomas Müller
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mitnehmend, unmittelbar hinter mir in das Gebäude. Es schien mir, als wäre er angesichts der Dunkelheit ebenso erschrocken wie ich, denn bereits nach der groben Türschwelle verließ ihn der Mut, weiter um sich zu schlagen. Er ließ die Schneeflocken einfach aus seinen Flügeln gleiten, die wie matte Federn langsam zu Boden fielen. An der Türschwelle selbst kämpfte er jedoch weiter und begehrte Einlass, sodass ich fast schon zornig die übergroße Holztüre einfach zuschlug.
    Fast gänzliche Dunkelheit umgab mich. Die kleinen weißen Wölkchen, die sich bei jedem Ausatmen vor meinem Gesicht aufrollten, zeigten mir an, dass ich mich zwar im Inneren eines Gebäudes befand, dieses aber offensichtlich nicht geheizt war.
    Jetzt war das Sumsen und Jammern deutlich zu hören. Ich konnte mich nicht mehr täuschen. Hier musste der Platz der Katastrophe sein. Ich versuchte mit meinen Augen Halt zu finden, und langsam löste sich die tiefe Dunkelheit durch ein matt gräuliches Licht, das zunächst nur schemenhaft und dann immer deutlicher einen sehr hohen Raum freigab. Nur vage konnte ich im Hintergrund Möbelstücke, wahrscheinlich Bänke in mehreren Reihen, erkennen und je tiefer ich versuchte, mit meinen Augen in den Raum vorzudringen, desto unmöglicher erschien es. Der hintere Teil des Raumes war nur mehr schwarz. Ein kahler, kalter Boden, bedeckt mit grob geschlagenen, schachbrettartig verlegten schwarz-weißen Marmorplatten, schmutzig, teilweise mit groben Rillen. Und abermals erkannte ich, dass das Wimmern nichts anderes als der verzweifelte Versuch meines Freundes war, durch die letzten Ritzen der schweren Holztüre abermals ins Innere des Gebäudes zu dringen.
    Plötzlich, als ob er an der Erkenntnis gereift wäre, dass kein Eindringen möglich war, verstummte sein Gesang. Das Einzige, was ich noch vernahm, war das Keuchen meines Atems. Hinter einem Mauervorsprung vermeinte ich Licht zu sehen und schlich nun langsam auf die Lichtquelle zu. Mit jedem Schritt wurde mein Atem zwar langsamer, aber die innere Anspannung dafür umso größer. Mir fiel ein, wie man an glühend heißen Sommertagen den zu Fuß zurückgelegten Weg unter der erbarmungslosen Sonne mit dem Wunsch beendet, endlich nicht mehr schwitzen zu müssen und sich deshalb in ein nahes Café oder ein kleines Geschäft flüchtet, um dort ein kühles Getränk zu erstehen, um dann festzustellen, dass die Poren des Körpers offensichtlich erst jetzt ihre Schleusen öffnen und man nun, lange nachdem man den kühlenden Schatten erreicht hat, erst so richtig zum tropfenden Wasserhahn wird.
    So ähnlich erging es mir jetzt, zwar unter anderen Temperaturen, nach meinem schweißtreibenden Versuch, diesen Ort hier zu finden. Aber ich spürte meinen Körper kaum. Waren es Tränen des Zornes ob des Umstandes, dass ich hier am Ort der Ruhe eine Tatsache von höchster Grausamkeit erblicken würde, oder waren es einfach die geschmolzenen Schneeflocken, die draußen in der Natur noch in einzelnen Kristallen an meinen Augenbrauen hafteten, die nun langsam schmolzen und in meine Augen drangen?
    Jedenfalls begann ich langsam sehr verschwommen zu sehen. Es waren plötzlich kleine tanzende Lichtquellen, die mich etwas beunruhigten. Pfeilartige Lichtstriche, die sich konzentrisch in alle Richtungen, in einer einzigen Quelle, wegbewegten und einmal länger, einmal kürzer wurden. Als ich einen riesigen, ausgehöhlten Steinquader, der fast in der Luft zu stehen schien, langsam umrundete, sah ich die leibhaftig gewordene Schlechtheit der Menschen auf einmal vor mir.
    Der Anblick war so grauenvoll, dass mir der Atem im wahrsten Sinne des Wortes stockte. Unfähig, mich auch nur innerlich annähernd zu beruhigen, hielt ich inne und starrte eine Szene an, die mich einfach durchbohrte. Ich hatte wahrlich schon hunderte Leichen in meinem Leben gesehen, tausende Obduktionsbilder, in Nahaufnahmen, Stich- und Schusswunden interpretiert. Ich hatte das Ergebnis von menschlicher Grausamkeit, Machtgier und Brutalität in allen Einzelheiten gesehen und mich immer wieder damit auseinander gesetzt. Aber das, was sich jetzt vor mir auftat, war mit nichts vergleichbar. Vor mir kniete eine junge Mutter auf dem Boden und hielt ihre Arme beschützend um ein Knäblein gewickelt. Ihr Gesichtsausdruck war flehend. Der Knabe hatte seinerseits die kleinen Ärmchen um den Hals der Mutter gelegt. In der Gestalt und Haltung des Kindes konnte man erkennen, dass es nicht genau wusste, was jetzt passieren
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