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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Autoren: Catherine Banner
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Ryan, von dem du mir erzählt hast? Fehlt er dir?«
    Schweigend gingen sie die Treppe hoch und über den Flur zu Annas Wohnung. »Ich habe mich in letzter Zeit nicht gut gefühlt, das ist alles.«
    »Warst du krank?«
    »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte Anna. »Mir ist zu r zeit ständig übel, und ich fühle mich irgendwie seltsam. Heute Morgen saß ich da, um meine Schuhe anzuziehen, und hätte anschließend zur Barre gehen müssen, um in die Anwesenheitsliste eingetragen zu werden. Ich wusste, dass ich dorthin musste, aber mir war so schlecht, dass ich nicht aufstehen konnte.«
    Er sah sie an, kurz davor, etwas zu sagen. Aber er schluckte es runter. Anna erwiderte seinen Blick.
    »Ich sollte jetzt reingehen«, meinte sie schließlich. Ohne ihm in die Augen zu sehen, sperrte sie die Tür auf und betrat hastig die Wohnung. Bradley stand noch i m mer im Flur, als sie über die Diele in ihr Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss.
    »Ryan«, sagte sie leise.
    Die Stille veränderte sich nicht.
     
    Weit von ihr entfernt sah Ryan von seinem Schreibtisch auf. Mit der Hand auf dem Silberadler an seinem Hals starrte er in die Nacht hinaus. Dann ließ er ihn wieder los, beugte den Kopf über die Seite und unterschrieb mit seinem Namen: Cassius Donahue. Darüber stand: Seine Majestät, König Cassius von Malonia. Die Tinte glitze r te. Er schob den Stapel Briefe zur Seite und starrte wi e der hinaus auf die Stadt.
    Aldebaran hatte gesagt, dass er England schon bald vergessen haben würde – das erging jedem so, sobald er es verlassen hatte –, und England hatte für ihn schon an Schärfe verloren, so wie eine Kindheitserinnerung oder ein vertrauter Traum. Aber das war nicht dasselbe, wie zu vergessen. Er konnte nicht vergessen …
     
    I ch versuchte gerade, jemanden zu erwürgen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen; er war bloß ein Soldat. Wir kämpften miteinander auf dem Boden, und um uns he r um standen im Kreis Menschen, die ich kannte – Gro ß mutter und Stirling, Maria und Pater Dunstan, ja, sogar Aldebaran –, und sie alle schrien mir zu aufzuhören. Und ich wollte aufhören – ich versuchte es wirklich –, aber meine Hände ließen nicht von ihm ab. Ich konnte sie nicht dazu zwingen, ihn loszulassen. Ich bemühte mich verzweifelt aufzuwachen. Ich wusste, dass, wenn es mir rechtzeitig gelingen würde, aus dem Traum aufzuta u chen, ich damit verhindern konnte, dass ich ihn umbrac h te. Aber meine Augen öffneten sich ebenso wenig wie me i ne Hände. Ahiras Gesicht – jetzt hatte ich es ganz klar vor Augen – war ganz nah an meinem, leichenblass und le b los starrte es mich an.
    Als ich endlich aufwachte, hätte ich mich vor Angst fast übergeben. Ich konnte nicht mehr einschlafen nach diesem Traum.
    Ich stand auf und stellte mich ans Fenster. Am heller werdenden Himmel waren noch immer ein paar Sterne, und der Mond schimmerte schwach und fahl. Draußen war alles in Silber getaucht. Der erste Herbstfrost war in dieser Nacht gekommen, er hatte sich auf die Dächer der Stadt und in die Schatten der Häuser geschlichen. Ich stand am Fenster, bis die Sonne aufging.
    Ich hatte schon viele Male denselben Traum gehabt und würde ihn noch viele Male haben. Aber ich erinnere mich, wie ich an diesem Morgen aufwachte, weil das der Tag war, an dem du zurückgekehrt bist.
    Kurz nachdem es sich im Haus zu regen begann, klopfte es an der Tür. Ich hatte niemanden von unten die Treppe heraufkommen gehört; ich war in Gedanken versunken gewesen und hatte dabei vergessen, dass ich überhaupt hier war. Großmutter schlief noch, deshalb ging ich hin, um zu öffnen.
    Auf der Schwelle stand ein grauer Mann. Er lächelte und sah dabei aus wie ein Totenschädel. »Leonard? Du musst Leonard sein.« Ich antwortete nicht. »Das letzte Mal, als ich dich sah, warst du kaum mehr als ein Baby.«
    Ich hab dich einfach nur angesehen. Du hast ein Buch aus deiner Tasche geholt und gesagt: »Gehört das dir?«
    Das Lächeln und die förmliche Begrüßung waren nur vorgespielt. Du kanntest uns. Ich starrte das Buch wortlos an. Ein schwarzes Lederbuch, nun schäbig und zerkratzt und am Rücken mehr schlecht als recht mit Klebstoff und Stahlklammern zusammengeflickt.
    »Ich habe versucht, es wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen«, sagtest du. »Aber selbst die E r leuchteten können nicht heilen, was zerbrochen wurde.«
    Ich nahm es entgegen und blätterte die Seiten um. Sie waren alle da – ein paar von ihnen jetzt
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