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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Autoren: Catherine Banner
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gegenüber argwöhnisch und wusste nicht, ob es ungefährlich war, es zu öffnen. Vielleicht wäre es besser gewesen, es dort liegen zu lassen. Ich wollte mich umdrehen und weggehen. Aber ich konnte nicht. Ich würde es aufheben – ich wusste, dass ich es tun würde. Es war unvermeidbar. Also hatte es keinen Sinn, es mir selbst ausreden zu wollen.
    Noch bevor ich mich bewusst dazu entschlossen hatte, wanderten meine Finger zu dem dunklen Ledereinband. Ich beobachtete für einen Augenblick, wie sie dar ü berschwebten, so als gehörten sie jemand anderem. Ich versuchte, die Hand wegzuziehen, doch ich konnte es nicht. Für eine Sekunde hatte ich Angst. Da schlossen sich meine Finger um das Buch, und im selben Moment verschwand die geisterhafte Präsenz. Ich hob das Buch auf und öffnete es.
    Die Seiten waren steif und von einem sonnengebleic h ten Gelb, so als wären sie aus Knochenspänen. Die erste war leer. Ich blätterte zur zweiten weiter. Nichts. Auch die nächste und die übernächste waren unbeschrieben. Ungeduldig bog ich den Einband zurück, bis der trockene Klebstoff am Buchrücken zu brechen anfing, und fäche r te die Seiten auf. Sie waren alle leer.
    Das Wetter hatte sich plötzlich verändert. Der Wind heulte jetzt durch die engen Straßen, und seine Tonlage wurde immer höher. Die Schneeflocken prasselten mir wie zerstoßenes Glas ins Gesicht. Der Kiefer schmerzte mir vor Kälte, und meine Finger auf dem Einband waren rau und nass vom schmelzenden Schnee. Ich stopfte das Buch in die Manteltasche und machte mich auf den Heimweg.
     
    Später, als ich meinen Fund im Licht der Öllampe im Schlafzimmer betrachtete, überlegte ich, ob es nicht be s ser gewesen wäre, ihn einfach liegen zu lassen. Es war etwas Fremdartiges daran, das mir nicht geheuer war. Ich war mir sicher gewesen, dass da irgendjemand mit mir auf der Straße gewesen war, und ich konnte nicht anders, als das Buch mit dieser Präsenz zu verbinden. Vielleicht war es absurd, das zu denken. Schließlich war es nur ein leeres Buch.
    Ich ging von der Lampe zum Fenster und drückte die Seite meines Gesichts dagegen, um einen Schatten zu erzeugen, durc h d en ich hinaussehen konnte. Der Wind hatte ein Loch in die Schneewolken gerissen, durch das ein paar Sterne funkelten. Es gefiel mir, sie zu betrac h ten. Einer von ihnen hieß Leo, aber ich wusste nicht, welcher. Ich hatte nie gewusst, welcher. Auf den Straßen gefror der Schnee zu Eis. Er fing jeden noch so schw a chen Schimmer von den Gaslampen ein und warf ihn eisblau zurück. Morgen würde es kalt sein – sehr, sehr kalt.
    Ein Geräusch ließ mich herumfahren. »Leo!«, sagte meine Großmutter scharf. Ich beförderte das Buch mit einem Stoß quer über den Boden in die Dunkelheit unter meinem Bett und setzte mich zurück auf die Fensterbank. »Leo!«, sagte meine Großmutter noch einmal und trat dann ins Zimmer. Sie sah kurz zu Stirling, der in seinem Bett in der gegenüberliegenden Ecke schlief. Dann wan d te sie sich zu mir um. »Leo, musst du das Licht anh a ben?« Ihre Brauen senkten sich und warfen einen Scha t ten über ihre Augen, sodass sie wie die eines Totenschädels au s sahen. »Mach es aus!«, befahl sie. »Du ve r schwendest Öl. Was tust du da eigentlich?«
    »Ich wollte gerade schlafen gehen.«
    »Gut. Es ist schon spät.« Sie sah mich einen Moment lang prüfend an.
    Sie wirkte so alt in der Dunkelheit, obwohl sie erst fün f undsechzig war. Das straff zurückgekämmte graue Haar schimmerte, und die losen Strähnen über ihren Ohren fi n gen das Licht der Lampe ein. Sie hatte tiefe Falten um die Augen und den Mund, und ihr Gesicht war ang e spannt. Es war immer angespannt, wenn sie mit mir sprach.
    »Musstest du wieder nachsitzen?«, fragte sie. »Leo, ich verliere langsam den Überblick, wie oft du in diesem Monat schon bestraft wurdest.«
    Ich gab keine Antwort. Sie sah mich lange schweigend an. »Was ist?«, fragte ich schließlich.
    Ich hatte erwartet, dass sie weiter an mir herumnörgel n w ürde. Aber stattdessen schaute sie weg und sagte: »Du wirst Harald immer ähnlicher. Seine Augen waren auch grau, als er so alt war wie du. Daran habe ich gerade g e dacht.«
    »Großmutter?«, wagte ich mich vor und stand auf.
    Sie wandte sich mir wieder zu. »Was denn?«
    Ich überlegte es mir anders. »Nichts …«
    »Gute Nacht, Leo«, sagte sie traurig. »Gott schütze dich.«
    Sie sah aus, als wollte sie nach oben fassen und ihre Hand auf meine Schulter legen, entschied sich
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