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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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nicht«, sagte Marcel. Er hielt David sein Zigarettenpäckchen hin.
    »Nein danke, ich darf doch nicht mehr. Sieh mal: Ein warmer Körper wird von selbst kälter. Aber wenn du ihn erwärmen willst, mußt du ihm Energie zuführen. So ist es immer. Ordnung kostet Energie, Unordnung bekommst du von selbst; undim System als Ganzem wächst immer die Unordnung. So heißt das Gesetz. So hieß es.«
    »Und jetzt nicht mehr?«
    »Wahrscheinlich nicht. Unter gewissen Umständen, bei einer gewissen Strahlung, unter Anwendung von vier Formeln – läßt es sich umkehren.«
    »Dann würden warme Körper in deinem Labor wärmer werden und Schreibtische ordentlicher und Maschinen würden für immer arbeiten und ...«
    »... immer besser.«
    »Das wäre das Ende der Welt.«
    »Wenigstens eine ziemliche Veränderung.«
    Marcel kniff die Augen zusammen und sah David an. »Weiter!«
    »Man braucht ein paar Dinge. Viel Energie, aber die könnte schon ein kleiner Reaktor liefern. Eine Art Zyklotron. Meine vier Formeln. Die Auswirkungen wären zunächst noch sehr beschränkt. Wie du gesagt hast: auf ein einzelnes Labor. Aber dann würde es sich ausbreiten. Ganz von selbst. Es würde sehr schnell gehen. Die Zeit würde ... Das ist schwer zu beschreiben ... – Sie würde verschwimmen. Ich kann das eigentlich nur mathematisch fassen.« Er sah Marcel an, mit Augen, die keine Farbe zu haben schienen; Marcel wich ihrem Blick unwillkürlich aus. »Den zweiten Hauptsatz aufheben. Kannst du dir vorstellen, was das heißt?« Irgendwo fiel ein Glas zu Boden und zerbrach, das Geräusch erschien David seltsam verzerrt.
    »Ich will dich nicht kränken«, sagte Marcel, »aber was du da redest, ist ziemlich eigenartig. Ich erinnere mich ja, daß sie dich schon in der Schule als Genie bezeichnet haben, und ich weiß auch noch, wie du mit vierzehn deinen verdammten Transistor ...«
    »Kondensator.«
    »... schön, Kondensator entwickelt hast, und daß du mir damals in der tunesischen Wüste auf einen Blick gesagt hast, wie viele Sterne zu sehen sind, der alte Trick ... Aber das scheint mir einfach eine Nummer zu groß! Sogar für dich.«
    David lächelte und sah in seine Tasse. Die schwarze Flüssigkeit, darin bräunliche Schlieren von der hineingegossenen Milch, sie lösten sich nicht auf, und dann, noch zitternd, das Spiegelbild seines Gesichtes. Er griff vorsichtig nach der Tasse und trank.
    »Also gut«, sagte Marcel. »Dann wünsche ich dir viel Glück! Ich verstehe von alldem nichts, ich bin nur ein Idiot, der im Rathaus in seinem Büro sitzt.« Er machte eine hektische Handbewegung, etwas Asche löste sich von seiner Zigarette und rieselte herab, ein schwarzes Häufchen auf dem Tisch, zwischen ihren Kaffeetassen. »Aber paß auf, mit wem du darüber redest! Paß wirklich auf!«
    Er schob seinen Stuhl zurück und drückte dieZigarette aus. Dann beugte er sich vor, stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch und senkte den Kopf. »Du weißt ja sicher, daß in jeder Universität der Welt, auch in dieser hier, ein Schrank existiert, in dem die Schriften liegen, in denen irgendwelche Wahnsinnigen die Relativitätstheorie widerlegen wollen oder die große einheitliche Theorie ...«
    »Vereinheitlichte Theorie.«
    »Von mir aus! ... vereinheitlichte Theorie der Kräfte finden oder sonst etwas Tolles! Du weißt das?«
    »Ja«, sagte David, »natürlich. Besser als du.«
    »Gut«, sagte Marcel. »Ich muß ins Büro. Ich bin ohnehin schon zu spät. Wir sollten morgen etwas ausführlicher ...«
    Den letzten Satz sprach er schon im Gehen. Er nickte David zu, die Flügel der Schwingtür teilten sich und schlugen hinter ihm zusammen. Seine Kaffeetasse stand unberührt da.
    David betrachtete den Aschenbecher. Von der zerdrückten Zigarette stieg noch Rauch auf: ein einzelner grauer Faden, wie eine Bleistiftlinie vor der weißen Helligkeit des Fensters. David atmete aus, und einen Augenblick darauf schlug der Faden eine leichte Krümmung, die an ihm aufstieg, an seinem Ende zu einem verblassenden Wirbel wurde, sich auflöste. Der Faden stand wieder unbewegt da. Und wurde blasser. Und erlosch.
    Heute morgen hatte er nach einem Termin beiProfessor Grauwald gefragt. Sogar Frau Wimmer war überrascht gewesen: Niemand ging zu Grauwald, wenn er nicht mußte. Aber er hatte den Termin bekommen. Heute um zwölf. In einer Stunde.
    Er trank seinen Kaffee aus, einen Moment lang war ihm schwindlig, er stand auf und ging in die Richtung der Schwingtür. Jemand rief
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