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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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nachgezeichnet vom Licht der Laterne.
    Die alte Regel, dachte er. Die Natur hat keine Lücke. Die älteste Regel. Keine Fugen, keine Sprünge, nirgendwo. Darauf ruht alles. Das weiß jeder.
    Wenn aber doch? Wenn es sie gibt? Sprünge und Risse, fallende Maschen im Gewebe; wenn das Netz löchrig ist? Gesetze, sie halten alles fest, ohne sie verschwänden wir im Chaos und in der Dunkelheit ...
    Nun waren es schon mehr Sterne. Unmerklich war es Nacht geworden. Ein Hochhaus – das einzige der Stadt – verdoppelte die Lichter der Erde und das Dunkel darüber, und die fernen, ganz fernen Lichter von oben.
    Und wenn ich den Fehler gefunden habe? Müßte man mich nicht ... Müßte nicht irgend jemand mich ...
    Und wieso saß er hier, wieso war er nicht zuHause? Vor einer Stunde, oder womöglich war es schon länger her, hatte er sich von Katja verabschiedet; dann war er gegangen und gegangen, an erleuchteten Schaufenstern vorbei, über eine Hauptstraße, auf der es nur noch wenig, vielleicht auch gar nicht mehr, nach Kerosin roch, bis hierher, in den Park. Hier war er oft gewesen und hatte an seiner Theorie gearbeitet. Nun besaß er sie ganz und hatte die Lösung, und es war keine Theorie mehr, sondern Gewißheit, und sie machte ihm Angst. Er blickte um sich. Der Park war klein und häßlich und nicht sehr sauber, meist bevölkert von Rentnern und schreienden Kindern; doch um diese Zeit war er leer und beinahe schön.
    Ja, es gibt sie – die Zeugnisse der Schwäche. Der Unvollkommenheit im Aufbau, Fehler eines zerstreuten Planers, Beweise eines mangelhaften Entwurfes, schlecht durchgeführt, auf ungeschickte Weise verborgen. Jene Sterne – er sah auf –, deren Schwere, zu stark angewachsen, nach innen stürzt, bis sie sich ballen und stärker ballen und ihre Materie keinen Ausweg mehr findet, als sich selbst zu durchdringen. Und sie taumeln durch den Raum, verformen ihn, verzerren die Zeit um sich, saugen Licht und allen Stoff in ihr mathematisches Nichts. Die Regeln gelten nicht überall. Sie können aufgehoben werden.
    Da war die Libelle weggeflogen. So schnell, daß sie schon Erinnerung schien, als er sie noch sah:Ihre leise summenden Flügel; kaum schienen sie sich zu bewegen; schon war sie in der Nacht. David horchte. Es war sehr still. Jemand, dachte er, wird sich neben mich setzen ...
    Aber nichts geschah. Es war ruhig, die Geräusche der Stadt schienen gedämpft, und er hörte seinen Atem, und nach einer Weile hörte er nichts anderes mehr, und die Ruhe umfing ihn sehr fest, und dann mußte er eingeschlafen sein. Die Dunkelheit war weich und vollständig.
    Er hörte Schritte. Jemand blieb stehen, die Bank knarrte, und dann saß jemand neben ihm. David drehte langsam den Kopf.
    Es war der Alte, der vorhin neben dem Kinoausgang gesessen hatte. Er hielt immer noch die Flasche in der Hand, ein säuerlicher Geruch ging von ihm aus; wahrscheinlich lebte er hier im Park. Er atmete schwer, bewegte die Lippen, sah David nicht an.
    »Wie bitte?« fragte David. Nein, er hatte sich verhört.
    Der alte Mann führte die Flasche zum Mund, legte den Kopf in den Nacken und trank. Bei jedem Schluck sah man seinen Hals anschwellen, der Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Er senkte den Kopf. Die Flasche löste sich aus seinen Fingern, fiel zu Boden und zerbrach in wegspritzende Scherben. Er stöhnte leise. Er atmete schnell und schwer. Bart und Haare waren zu Strähnen verklebt. Er schien Schmerzen zu haben.
    »Kann ich ...« fragte David, räusperte sich, begann noch einmal. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Aber er antwortete nicht. David streckte zögernd, widerwillig die Hand aus und berührte ihn an der Schulter; der Stoff seiner Jacke war schmutzig und hart. »Kann ich Ihnen helfen?«
    Er starrte David an und antwortete noch immer nicht. Er atmete langsamer. Ohne zu wissen warum, beugte sich David vor und berührte das Gesicht des Alten. Es war feucht. Sein Bart fühlte sich pelzig und naß an. Er keuchte. Seine Augen waren glasig.
    David strich ihm über den Kopf, die Haare. Er atmete ruhiger. Über die Schulter und den Arm, und dann zog er die Hand zurück. Der Alte atmete nicht mehr.
    David stand auf. Er fühlte keinen Schrecken, keine Angst, ihm war, als ob er es erwartet hatte. Am Horizont zeigte sich eine Linie aus blassem Licht; die Nacht würde bald vorüber sein; die Zeit war schnell vergangen, schneller als je, viel zu schnell. Der alte Mann saß starr da, seine Augen standen offen, sein Gesicht sah merkwürdig aus, nicht
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