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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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um zu verbergen, daß sie ihn ansahen. Es hat nichts zu bedeuten, sagte David leise, nichts, überhaupt nichts! Er bog um noch eine Ecke und ging auf seine Haustür zu. Davor stand jemand.
    »Wo warst du?«
    »Hast du ... lange gewartet?« fragte er, um sein Zögern zu verbergen. Für eine schreckliche Sekunde hatte er sie nicht erkannt. – Katja atmete schwer, ihre Haare waren unordentlich, ihr Gesicht, noch stärker als sonst, gerötet; sie mußte gelaufen sein. Sie nahm ihre Zigarette aus dem Mund und warf sie weg.
    »Zu lange. Du siehst seltsam aus. Ist etwas passiert?«
    Er hob die Schultern. »Nein! Nein, wieso? Gehen wir spazieren?«
    Neben ihnen zogen Hauswände vorbei und dann, immer wieder, ihre Spiegelbilder im Glas der Schaufenster. Eine Frau mit schwarzen Haaren und einem schmalen Gesicht, die vor dem wechselnden Hintergrund von Radios, Zeitschriften, Schuhen und wieder Radios neben einem dicken Mann ging. Aus der Ferne hörte man die auf- und abschwellenden Töne von Sirenen.
    »Du glaubst mir nicht, oder?«
    »Ich glaube«, sagte sie, »daß du der Meinung bist, etwas entdeckt zu haben.«
    Er lächelte schwach. »Sehr schlau.«
    »Könnte es nicht sein, daß es für dich ganz richtig aussieht und daß trotzdem ein Fehler ...«
    »Nein«, sagte David. Sie schwiegen. Die Dächer glänzten schon rötlich, die Sonne würde bald untergehen.
    »Es ist die Zeit, nicht?«
    »Nicht direkt«, sagte er. »Ihre Richtung. Man hat etwas übersehen. Man hat das Wichtigste übersehen.«
    Aus dem Abendrot fiel eine einzelne Krähe: zogflatternd abwärts, stieß einen Schrei aus und landete auf dem Arm einer Fernsehantenne.
    »Wollen wir da hineingehen?«
    Katja folgte seinem Blick und bemerkte, daß sie vor einem Kino standen. Auf Plakaten posierten berühmte Schauspieler. Sie nickte überrascht.
    Es war ein Film über einander tötende Verbrecher, es roch nach Fett und Popcorn, und der Saal war fast leer. Der Hauptdarsteller rannte eine Straße entlang und verschwand in einem Hauseingang; jemand verfolgte ihn, denn er besaß oder wußte etwas, das er nicht besitzen oder wissen durfte. Die Straße war schon geleert für ihr Zusammentreffen. In den Großaufnahmen wuchsen ihre Gesichter über viele Meter. David blinzelte. In seiner Nase spürte er noch, aber vielleicht war das eine Einbildung, den Geruch des Feuers.
    Die Farben vor ihm vermischten sich, schienen zu zerrinnen, streckten sich, eingefaßt in Lichtstrahlen, in den Raum, hinaus, nach ihm. Und plötzlich, während der Hauptdarsteller eine silberne Pistole hob, ein Auge zukniff und zielte – gleich würde er schießen, gleich, und dann schoß er wirklich, und die Explosion raste wie ein Gewitter über die Sitzreihen –, spürte David eine Bewegung. Etwas kam. Bewegte sich auf ein Ziel zu; und das war ... Er unterdrückte einen Aufschrei.
    Als sie hinaustraten, dämmerte es. Laternen und Auslagen, Scheinwerfer und erleuchtete Fensterlegten einen gelblichen Glanz auf die Straße. Zwischen den Dächern hing ein Stück dunkler Himmel.
    »Was ist los?« fragte Katja. »Fehlt dir etwas?«
    Er betrachtete sie, und für einen Moment war er nahe daran, sie zu umarmen und an sich zu ziehen; aber dann wurde ihm klar, daß er das nicht tun würde, jetzt nicht und auch nicht später, daß er es niemals tun würde. Er trat zurück und sah sie hilflos an. Hinter sich hörte er ein Murmeln; er war erleichtert, daß es einen Grund gab, sich umzudrehen.
    Am Rand der Straße, gelehnt an eine Mauer, saß ein Mann mit einem langen, dreckigen Bart und einer Flasche in der Hand. Er sah alt, verwahrlost und schmutzig aus und bewegte hastig die Lippen, als redete er auf sich selbst ein oder auf jemand Unsichtbaren. Dann führte er die Flasche zum Mund. Trank, setzte sie ab, stöhnte, sprach weiter. David wandte sich ab.
    Durch eine Pfütze zog blinkend das Spiegelbild eines Flugzeugs, eine dreieckige Anordnung von Lichtern. David streckte den Fuß aus und berührte sanft mit der Schuhspitze das Wasser. Das Flugzeug wuchs, verschwamm, verschwand. Er sah auf, um am Himmel danach zu suchen. Aber dort war es nicht. So scharf er auch hinsah: Es war nicht zu sehen.

III
    Seine Schritte knirschten auf dem Kies. Die Luft füllte sich mit Grau, wie mit feinem Nebel. Am Himmel traten nach und nach die Sterne hervor. David setzte sich auf eine Parkbank. Nach einer Weile bemerkte er, daß neben ihm, auf dem lackierten Holz, eine Libelle schlief. Die Flügel ganz bewegungslos, das feine Netz
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