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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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schloß. Sein Magen knurrte, er hatte Hunger. Jemand rempelte ihn an, eine Schulter berührte seinen Oberarm, eine Hundeschnauze beschnüffelte seine Beine. Er fühlte hinter sich die zerstörte Laterne, sehr deutlich, wie eine schmerzende Stelle an seinem Körper. Und spürte auf seinem Gesicht, wie die Sonne hervortrat, verdeckt wurde, hervortrat, als versuchte sie, jemandem Signale zu geben.
    Langsam ging er los. Der Boden fühlte sich hart und nicht ganz eben an, von den Plakaten am Straßenrand starrten Gesichter auf ihn herunter; tatsächlich auf ihn; ihm war, als ob er im Mittelpunkt einer verwirrend starken Aufmerksamkeit stand. Aber nein, sagte er sich, das ist eine Täuschung; das muß eine Täuschung sein! Er bog um die Ecke und stand an einer breiten, dröhnenden Straße.
    Und spürte es, einige Sekunden, bevor er noch irgend etwas gesehen oder gehört hatte. Er senkteden Kopf und zog die Arme an sich. – Dann erfüllte ein metallenes Knirschen die Luft; und als David herumfuhr, sah er einen grünen Lastwagen, von der Fahrbahn abgekommen, an einer Hauswand entlangschrammen. Eine Frau schrie auf, ein Mann brüllte etwas; Menschen rannten davon, sprangen weg, ein Hund zog seine nutzlose Leine hinter sich her, ein Chor von Autohupen schwoll an und blieb schwerelos, leicht oszillierend, in der Luft stehen ... und der Augenblick gefror.
    Der Lastwagen stand, ganz ruhig, auf zwei Rädern. Im Gleichgewicht und schwerelos. Als könnte es so bleiben. Und auch die Menschen waren erstarrt. Mitten auf der Straße, im Laufen, unter den schwebenden Akkorden der Hupen. Nur eine Taube durchkreuzte langsam, mit gleichmäßigen Flügelschlägen, den Himmel.
    Dann war es vorbei. Der Lastwagen landete krachend auf der Seite. Die Menschen, immer mehr davon, rannten, die Hupen wurden übertönt vom Geschrei, und die Taube war nicht mehr zu sehen. Die Menschen rannten – David stellte sich auf die Zehenspitzen, um es besser sehen zu können – und wichen zurück, zurück ... wovor? Dann sah er es.
    Vor der durchsichtigen Flüssigkeit, die ausrann und einen süßlichen Geruch verströmte. Sie breitete sich aus, in einem wachsenden Halbkreis; schon blitzte, spitz und lebendig, eine Flamme auf. Und noch eine, und jetzt waren es viele. Über derFlüssigkeit, um den umgestürzten Lastwagen herum, auf ihm, neben ihm. – Da öffnete sich, senkrecht nach oben, die Tür der Fahrerkabine. Ein Mann in einem blauen Overall zwängte sich heraus, sprang hinunter, schaffte es irgendwie, auf die Füße zu kommen, und rannte los. Er hatte einen Schnurrbart und lange Haare, und über seine Stirn rann ein dünner Faden Blut. Seine Augen waren leicht gegeneinander verschoben, etwas an seinem Gesicht schien verformt ... Fast hätte er es geschafft.
    Doch dann faßte eine Flamme nach ihm. Der Stoff seines Overalls sog sie an sich, und schon waren es mehr, und er war über und über bedeckt mit Feuer. David wich langsam zurück, Schritt für Schritt, ohne den Blick von dem Mann abzuwenden, der jetzt einen lautlosen Tanz vollführte, auf und ab, auf und ab sprang (warum schrie er nicht?), sich drehte, wieder sprang; und ein gelber Ballon, losgelassen von einem Kind, stieg langsam und fröhlich ins Blau.
    Jemand hatte einen Feuerlöscher geholt: aus dem Schlauch spritzte weißer Schaum, die Flammen veränderten ihre Farbe, widerstanden einen Moment und erstickten in einem noch schillernden, dann matten Rot. Ein paar Seifenblasen lösten sich, trieben unbeachtet durch die Luft, zerplatzten. Der Wind breitete einen bösartig scharfen Geruch aus, David hielt sich eine Hand vor die Nase,schloß für eine Sekunde die Augen, war allein mit dem Gestank, dem hilflos schnellen Klopfen seines Herzens, dem Schreck, der ihm den Hals zuschnürte, und mit einem merkwürdigen Verdacht. Er öffnete die Augen.
    Der Mann lag reglos da, mit dem Gesicht nach unten. Von seinem Overall war nichts geblieben, alles dahin, verwandelt in Licht und Wärme und etwas schwärzlichen Rauch, der über ihm aufstieg, sich auflöste, verschwand. Der Ballon war schon weit weg, kaum mehr zu sehen, nur noch ein Farbfleck. An ein paar Stellen brannte die Flüssigkeit noch, aber nun wurde auch dort gelöscht, und die Luft wurde besser. David wandte sich ab und bog um die Ecke.
    Die Sonne stand niedrig im Westen. Alles sah wieder normal aus, ganz wie vorhin, als wäre nichts geschehen. Von den Plakaten blickten die gleichen Menschen, die gleichen Gesichter, die ein Lächeln vortäuschten,
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