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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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hörte, wie seine Atemzüge in ein Keuchen übergingen, aber er hielt die Augen geschlossen, und er bewegte sich nicht. Die Uhr tickte. Und dann war dieses Ticken, die immer gleiche Spanne von Stille zwischen dem immer gleichen Laut, nicht mehr Begleitung, sondern hatte sich ins Innere der Gedanken selbst geflochten; es erschien plötzlich – verständlich. Auf der Straße heulte ein Motor auf, falsch geschaltet. Und in diesem Moment explodierte in ihm, in einem versteckten, noch niemals aufgesuchten Ort seines Bewußtseins, eine Gewißheit. Entsandte warme, funkelnde Wellen in sich weitenden Kreisen; voran, hinaus, voran, durch David.
    Eine Weile lag er da wie ein Toter. Die Uhr tickte, sonst war es still. Er öffnete die Augen.
    Die Zimmerdecke hing über ihm, eine Fläche aus geglätteter Dunkelheit. Möbel formten graue Silhouetten. Das Viereck des Schrankes, die Umrisse des Schreibtisches, die gezackte Form des Sesselsdavor. Er wollte sich auf die Seite drehen, aber ihm fehlte die Kraft. »Endlich«, sagte er leise und fand, daß seine Stimme seltsam klang. »Endlich!«
    Dann war etwas geschehen. Er versuchte einzuatmen, doch nun ging das nicht mehr; etwas preßte seine Lunge zusammen, schnürte ihm den Atem ab; sein Herz trommelte. Er streckte die Hand aus, tastete auf dem Nachttisch nach der Dose mit dem Nitrospray, stieß Gegenstände zur Seite, etwas fiel hinunter, er wußte nicht was, und die Dose war nicht da, nicht da ... Da spürte er sie in seiner Hand. Er führte sie zum Mund, umschloß das Mundstück mit den Lippen, atmete den bitteren Geschmack ein.
    Er wartete. Die Uhr tickte zehn, fünfzehn ... zwanzig Mal. Jetzt war es besser. David atmete vorsichtig ein und aus und wieder ein. Die Spraydose glitt aus seinen Fingern und verschwand irgendwo im Bett. Sein Puls war nun langsamer, auch das Zittern hörte auf. Er drehte sich zur Seite.
    Er widerstand der Versuchung, sich das Gebilde noch einmal vor Augen zu stellen. Das würde er morgen tun und übermorgen und dann immer, jeden Tag, es gehörte jetzt ihm. Er spürte, wie der Schlaf näherkam: Ein tiefer, sehr angenehmer, nicht bedrohlicher Schlaf. Hinter dem Ticken der Uhr und den Motorgeräuschen von draußen trat allmählich, wie ein leises Rauschen, die Stille hervor.
    David lächelte.

II
    Ein Pfeifen zerriß die Dunkelheit. Mechanisch streckte er die Hand aus und stellte den Wecker ab. Halb acht! David öffnete die Augen, drückte seinen Körper gegen das Gewicht des Schlafes und richtete sich auf.
    Es regnete. Tropfen schlugen gegen das Glas und malten durchsichtige, nach unten zerrinnende Kreise. Er hatte Kopfschmerzen. Sein Mund war ausgetrocknet, bis tief hinunter in die Kehle. Er räusperte sich, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
    Einen Moment lang war ihm schwindlig. Die Formeln in seinem Gedächtnis: Ja, sie waren da, sie waren alle noch da. Er ging zum Fenster und öffnete es. Feuchtigkeit wehte ihm ins Gesicht; er kniff die Augen zusammen. Auf der Straße bewegten sich aufgespannte Regenschirme; ein Mann hielt sich eine Zeitung über den Kopf; ein Kind in einem Gummimantel sprang in eine Pfütze, das Kind sah auf, und für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke: es lächelte. Ein Straßenkehrer fegte Glasscherben zusammen, das Wasser rann von seiner Pelerine. Neben ihm ragte eine Laterne kopflos auf.
    David trat zurück, schloß das Fenster und ließ sich in den Sessel fallen. Er starrte lange auf seinenSchreibtisch. Dann griff er nach dem Telefonhörer.
    »Ja?« Frau Wimmer, die Sekretärin, kam immer schon vor acht ins Institut.
    »Ich bin es«, sagte er, »ich kann nicht kommen. Ich fühle mich nicht gut.«
    »Grippe?«
    »Wahrscheinlich. Sie müssen jemanden für die Einführung finden.«
    »Herr Doktor Mahler, dafür erreiche ich jetzt wirklich keinen ...«
    »Sie müssen aber. Ich kann nicht!« David hörte sie Luft holen, aber er kam ihr zuvor und legte auf.
    Er überlegte einen Moment. Dann nahm er einen Bleistift, setzte die Spitze auf ein Blatt Papier und – begann. Es mußte aufgezeichnet werden. Er zögerte einen Moment: die Vierecke auf dem Papier lösten sich in einander kreuzende Schlangenlinien auf. Er rieb sich die Augen. Die Linien flossen aufeinander zu und erstarrten wieder zu winzigen, gleichmäßig leeren Kästchen. Quadrate, die darauf warteten, gefüllt zu werden. Die bereitstanden, alles, was er wußte, aufzunehmen.
    Und er schrieb.
    Von Zeit zu Zeit sah er auf: Der Wind wurde kräftiger.
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