Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
ganz wie ein wirkliches Gesicht; eher wie ein Gegenstand unter anderen, wie die Bank, die Laterne dort drüben, die zerbrochene Flasche. Der Wind bewegte seinen Bart. Über seine Hand krabbelte eine kleine Fliege. Der Anblick war merkwürdig schön. David wandte sich ab und ging davon.
    Es wurde Morgen. Wie lange hatte er auf der Bank gesessen? Daß die Sonne jedesmal wiederkommt, daß der Wechsel so verläßlich ist und die Planeten sich derart beständig halten auf ihren Wegen durch die Nacht – ist das so sicher ...? Für einen Moment schien es ihm, als hätte er wieder die Libelle gesehen, aber es war nur ein Fetzen gelblichen Kunststoffs, der Rest eines geplatzten Ballons. Ein Straßenkehrer schob Scherben vor sich her, in den Glasstückchen spiegelte sich der Anfang des Tages.
    Und die Antennen standen sehr schwarz vor dem Dunkelrot. Die Farbe des Sonnenaufgangs, gespiegelt im Glas des Hochhauses. Die Schatten schrumpften und nahmen die Farbe der Straße, der Steine an. Das Rot wurde schwächer, die Sonne erschien bleich und verschwommen; und nun zeigten sich auch Wolken. David sah auf die Uhr. Er mußte vor der Arbeit unbedingt noch nach Hause und seine Notizen an Valentinov schicken! An der Haltestelle der Straßenbahn blieb er stehen.
    Etwas berührte sein Bein. Etwas Lebendiges, Atmendes: eine Nase.
    Sie gehörte einem Schäferhund. Einem großen, gepflegten Tier mit braunen und klugen Augen. David sah auf ihn hinunter. Der Hund hob den Kopf. Einen Moment lang rührte er sich nicht. Dann sträubte sich das Fell in seinem Nacken, und seine Lefzen entblößten zwei Reihen spitzerZähne. Er wich zurück, mit einem tiefen Vibrieren in der Kehle, einem dunklen Knurren. David bemerkte überrascht, daß er keine Angst hatte. Er trat auf ihn zu.
    Der Hund wich zurück, und dann, als David noch einen Schritt machte, lief er davon. Vorbei an seiner Besitzerin, einer dicken Frau mit einer Leine in der Hand. Sie drehte sich um, sah ihm hilflos nach, rief einen Namen, den David nicht verstand. Dann ließ sie die Leine fallen und rannte ihm nach.
    Die Straßenbahn hielt. David stieg ein, setzte sich. Eine junge Frau sah ihn an, er lächelte, sie sah woanders hin. Die Bahn fuhr an, ihre Bewegung drückte ihn sanft in den Sitz; die Kraft der Trägheit, das Streben nach Beharrung, Gesetz allen Stoffs.
    Es roch nach Staub und nach abgestandener Luft. Die Sonne war nicht mehr zu sehen. Bald würde es regnen.

IV
    »Na und?« sagte Marcel. »Obdachlose sterben täglich. Unfälle passieren dauernd. Was meinst du damit? Du denkst, du bist jetzt ein großer Mann, ja?«
    David stellte seine Tasse ab. »Jeder hätte das finden können.«
    »Aber du bist der erste?«
    »Ich glaube schon.«
    David sah sich in der Kantine um. Ein paar Studenten saßen an den Tischen, blätterten in Büchern, füllten den Raum mit leisem Gemurmel. Er hatte das Gefühl, daß sich immer wieder Leute nach ihm umdrehten, ihn beobachteten, ihm interessierte Blicke zuwarfen. Aber nein, das war unmöglich! Es roch nach Kaffee und Reinigungsmitteln. Marcel saß mit dem Rücken zum Fenster und hielt eine Zigarette in der Hand; Rauch stieg auf, kräuselte sich, bildete dünne Wirbel. Das Licht umrahmte seine Gestalt, machte sein Gesicht zu einem dunklen Oval.
    »Heute morgen«, sagte David, »habe ich meine Aufzeichnungen an Valentinov geschickt.«
    »An wen?«
    »Den Nobelpreisträger.«
    »Kenne ich nicht.«
    »Ich glaube«, sagte David, »ich sollte selbst zu ihm fahren.«
    »Willst du auch den Nobelpreis?«
    »Das hier ist viel wichtiger.«
    »Das hast du schon ein paarmal gesagt. Aber vielleicht wäre es doch besser, wenn du erst einmal abwartest, und dann ...«
    »Das hat Katja auch gesagt.«
    »Katja?« Marcel grinste. »Wie steht es mit euch beiden? Habt ihr endlich ...?«
    »Mein Gott!« rief David. »Laß doch diesen Unsinn! Soll ich es dir erklären oder nicht? Es geht um den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Das Gesetz der Zeit. Die Unordnung in einem geschlossenen System kann nur gleich bleiben oder wachsen. Das heißt, daß ein Schreibtisch von selbst unordentlich wird, aber niemals ordentlicher. Daß ein Gas sich von selbst nur ausbreitet und niemals konzentriert. Daß das All sich ausdehnen und abkühlen muß. Daß kein Perpetuum Mobile gebaut werden kann, niemals. Alle Vorgänge des Universums sind zyklisch – nur dieser eine nicht. Das zweite Gesetz, das ist die Richtung aller Entwicklungen in der Welt. Das ist die Zeit.«
    »Verstehe ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher