Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
»Hallo!« – David wußte nicht genau, ob er gemeint war, aber zur Sicherheit nickte er.
    Der Gang draußen irritierte ihn. Er schien ihm länger als gewohnt, seine vier Kanten liefen stärker aufeinander zu, eine kaum merkliche Änderung der Perspektive. »Das hat nichts zu bedeuten!« sagte er leise. Zwei Männer mit Aktenkoffern sahen ihn überrascht an.
    »Ich werde mich«, sagte er, »nicht aufregen. Es kommt darauf an, ruhig zu bleiben. Das ist eine Sache der Logik!«
    »Wie bitte?« Frau Doktor Erkel, Dozentin für Soziologie, war stehengeblieben und musterte ihn.
    »Was?«
    »Ich habe Sie nicht verstanden. Wovon reden Sie?«
    Er wandte sich ab und lief die Treppe hinauf, seine Schritte hallten dumpf durch das Haus, die Stufen bewegten sich ihm sachte entgegen, das Geländer schien auf seine Berührung zu reagieren; in den Fenstern jedes Stockwerkes blitzte sein Spiegelbildauf, als hätte es ihn erwartet. Und hier der Gang, und hier die Tür zu seinem Büro.
    »Alles in Ordnung?« fragte Mohr. »Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgefeiert.« Er hatte seine Hände hinter dem Kopf verschränkt und die Füße auf den Schreibtisch gelegt. David setzte sich keuchend und betrachtete vorwurfsvoll Mohrs Schuhsohlen.
    »Ich habe sie auf einer Parkbank verbracht.«
    »Sehr witzig!« Mohr folgte Davids Blick. »Entschuldige!« Er stellte seine Füße ächzend auf den Boden. »Heute war es schwer, herzukommen, nicht? Wo doch die Hauptstraße gesperrt ist.«
    David nahm ein Blatt Papier und begann, eine Figur zu kritzeln: vier Ebenen, von denen je zwei sich schnitten, erzeugten zwei Geraden. »Warum?«
    »Der Unfall mit dem Tankwagen.«
    David erstarrte. Und zeichnete weiter. Die zwei Geraden schnitten sich und erzeugten einen Punkt: der Abstieg von zwei Dimensionen in eine, von einer ins Ausdehnungslose.
    »Siehst du keine Nachrichten? Zum erstenmal seit Jahren sind wir mal wieder im Fernsehen. Gestern nachmittag ist ein Tankwagen umgekippt, alles ausgeflossen. Das Grundwasser ist verseucht, die Kanalisation mußte ausgepumpt werden. Und der Brennstoff hat Feuer gefangen, und der Fahrer hat die schwersten Verbrennungen. Er lebt noch, aber sicher nicht mehr lange. Sonst noch fünf Verletzte. Ich wohne dort ja ganz in der Nähe! Du auch, oder? Hast du wirklich nichts bemerkt?«
    »Nein«, sagte David, »wirklich nichts.« Er nahm das Blatt, zerknüllte es, warf es nach dem Papierkorb, verfehlte ihn. Mohr lachte. Der Papierball rollte über den Boden, stieß an die Wand und faltete sich knisternd wieder auf.
    »Ich habe gestern für dich das Einführungsseminar übernommen. Du schuldest mir was!«
    David antwortete nicht.
    »Du warst doch nicht wirklich krank?«
    David sah auf. »Warum?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Mohr. »Ich dachte nur! Ach ja, die Unfallursache ist nicht geklärt. Der Fahrer scheint eingeschlafen zu sein, Drogen oder so etwas ... Jedenfalls behauptet er, etwas gesehen zu haben, direkt über seinem Auto, im Himmel. Etwas ganz Merkwürdiges; er weigert sich, es zu beschreiben. Fehlt dir was? Meine Güte, was ist denn?«
    David war aufgestanden. Sein Bleistift rollte über den Tisch, erreichte die Kante, fiel: Er folgte ihm mit den Augen, aber plötzlich hatte er ihn verloren, kein Bleistift erreichte den Boden; kein Bleistift war zu sehen, nirgendwo.
    Er setzte sich. Der Stuhl knarrte unter seinem Gewicht. Er sah auf die Uhr, es war Viertel nach elf. Vorhin, in seiner Wohnung, hatte er nicht einmal mehr Zeit gehabt, sich umzuziehen. Er hatte seineAufzeichnungen in ein Kuvert gesteckt – so eilig, daß er nicht einmal mehr Kopien davon gemacht hatte, aber wozu auch, er wußte ja alles auswendig, er würde es niemals vergessen; dann hatte er einen Boten bestellt, ein kompliziertes Formular ausgefüllt und das Kuvert an Boris Valentinovs Universität geschickt. Es war sehr teuer, aber der schnellste Weg. Danach hatte er gerade noch die Straßenbahn erreicht, die ihn täglich zur Universität brachte. Und Marcel, wie verabredet, in der Kantine getroffen.
    Er bemerkte, daß Mohr ihn ansah, mit schmalen Augen, seltsam ernst. David erschrak. Er rieb sich die Augen, und dann, mit etwas Mühe, brachte er es fertig zu lächeln.
    »Was?« rief er, ein wenig zu laut. »Ach so, nein. Nein! Mir fehlt nichts. Wieso?«

V
    »Bin ich zu spät?«
    »Doch, ja. Setzen Sie sich.«
    Professor Grauwald saß, wie immer, hinter seinem Schreibtisch. Es schien David, als ob er ihn nie anderswo gesehen hatte. Der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher