Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
Vom Netzwerk:
Professor hatte graue Haare, die immer ungekämmt waren und von seinem Kopf abstanden und vor dem Hintergrund des Fensters sehr fein und hell aussahen. Aber sein Gesicht wirkte wie aus Kartoffeln geformt: rundliche Backen, eine knollige Nase, winzige, in tiefen Höhlen versenkte Augen mit einem starren Blick. Dazu ein schwarzer Anzug und eine breite, purpurrote Krawatte. Hinter ihm war eine Bücherwand voller Lederrücken mit in Gold geprägten Titeln; sämtliche Ausgaben der Facetten der Physik . Der Regen trommelte ans Fenster, ein nicht nachlassendes Geräusch, eine beständige Gegenwart.
    »Wenn es um ein Forschungsprojekt geht, Herr Doktor, für das nächste Jahr sind die Mittel schon ...«
    »Nein«, sagte David, »um etwas anderes. Ich habe etwas, das ich Ihnen vortragen möchte.«
    »Sie wissen ja, daß ich für die persönlichen Anliegen ...«
    »Es ist eine Theorie.«
    »Wie bitte?«
    »Eine Theorie. Ich würde sie gerne in den Facetten veröffentlichen. Aber es müßte ziemlich bald sein.«
    Grauwald runzelte die Stirn. »Also, die nächsten fünf Nummern sind vollständig verplant. Und auch danach denke ich nicht ...«
    »Deswegen will ich es Ihnen erklären. Ich glaube, Sie werden es wichtig genug finden. Was ich habe, muß bekannt gemacht werden, verstehen Sie, ich darf nicht der einzige sein, der es weiß, sonst ... Bitte hören Sie mir zu!«
    Grauwald sah David ein paar Sekunden lang an, dann nickte er, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und rieb sich die Augen. »Also gut. Bitte. Worum geht es?«
    Eine Welle von Nervosität stieg in David auf, seine Hände zitterten. Er sah auf sie hinunter: Zwei breite, haarige Hände mit kurzen Fingern. Schon wurde er ruhiger. Er rückte seine Brille zurecht.
    Am Anfang war er heiser und mußte sich räuspern und noch einmal räuspern. Er holte seinen Schreibblock hervor, öffnete ihn, begann zu zeichnen. Krakelige Skizzen; einige davon gelangen nicht, er riß die Blätter heraus, knüllte sie zusammen, warf sie in Richtung des Papierkorbes. Dann versagte sein Kugelschreiber, und er nahm einen neuen von Grauwalds Tisch. Die Buchtitel im Regal schienen in regelmäßigen Abständen schwachaufzuleuchten. Da waren auch zwei Fotos: Grauwald, lächelnd, hinter einem Vortragspult, in der Hand eine Urkunde; und Grauwald händeschüttelnd mit Boris Valentinov. Der Professor saß jetzt regungslos da, den Kopf auf seine Fäuste gestützt. Plötzlich hatte David Durst; er hätte gerne nach einem Glas Wasser gefragt. Der Kugelschreiber löste sich aus seiner Hand, fiel zu Boden, rollte davon. Er unterdrückte den Impuls, ihn aufzuheben, und nahm einen neuen. Grauwald schnaufte leise, David riß ein neues Blatt heraus, knüllte es zusammen, warf es weg. Er hatte aufgehört, seiner Stimme zuzuhören. Er hatte fast vergessen, daß er sprach.
    Seine Gedanken irrten ab, glitten davon, und es gelang ihm nicht, sie festzuhalten; währenddessen hörte er sich weiterreden, immer weiter. – Und plötzlich erfaßte ihn ein schwindelerregendes Gefühl von Unwirklichkeit; und er wußte, daß er schon hier gesessen hatte oder sich wenigstens hier sitzen gesehen hatte, in genau dieser Situation, und gleich würde ihm einfallen, wann das gewesen war, gleich ... Dann vermischte dieses Bild sich mit anderen, älteren Bildern; und sie alle schienen einen Zusammenhang zu besitzen, eine durchlaufende Verbindung, die völlig offensichtlich war und die ihm nur jetzt gerade, aus irgendeinem Grund, nicht einfiel ... Er fühlte sich angefaßt und hochgehoben und spürte, wie jemand nach ihm griff, und esdauerte einige lange Sekunden, bis er wenigstens dieses Bild, diese eine Erinnerung, wiedererkannte.
    Es war ein Tag im Sommer gewesen, in einem lange vergangenen, anonymen Sommer, vielleicht dem ersten Sommer, der je existiert hatte. Seine Mutter hatte ihn hochgehoben und seinem Vater gegeben, und dann hatte seine Schwester ihn genommen; einer nach dem anderen hielten sie ihn fest. In einem Garten, der nicht aufbewahrt war, der bloß den Hintergrund dieser Erinnerung bildete, nicht einen Teil davon. Seine Schwester sagte etwas, und sie fühlte sich warm an, und ein Leben lang würde er zusammenzucken, wann immer er dem Geruch von Sonnenöl begegnete. Er blinzelte, die Bienen summten tief; alles zerfloß in Helligkeit.
    Es war die einzige wirkliche Erinnerung an seine Schwester. Sie war bald darauf verschwunden. Er hatte es nicht gesehen, doch er war in der Nähe gewesen. Im Gras, auf einem blauen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher