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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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gedacht, eigenständig bis zur Verschrobenheit und ...«
    »Schon gut«, sagte Marcel, »schon gut. Ich wünschte, er hätte das hören können. Wir haben sogar Ihre Haushälterin geweckt, mitten in der Nacht, nur um ...«
    »Ich habe keine Haushälterin. Nie eine gehabt. Wissen Sie, ich frage mich, warum es immer wieder der zweite Hauptsatz ist. Vielleicht wirklich, weil er uns und allen Dingen, allen nur möglichen Dingen, den Tod vorschreibt. Ihn aufheben, das wäre ... keine kleine Leistung. Aber es geht nicht, es wird nie gehen. Es kann nicht gehen; wenn irgend etwas sicher ist, dann das.« Er sah Marcel an und lächelte schwach. »Leider.«
    »Ich danke Ihnen jedenfalls«, sagte Marcel, »daß Sie so offen gesprochen haben.« In Valentinovs Brillengläsern sah er sich selbst, seine eigenen Umrisse, vor dem Hintergrund des erleuchteten Hotels.
    Valentinov legte den Kopf schief, stützte sich auf seinen Stock und nickte. Marcel wollte noch etwas sagen, aber dann wandte er sich ab. Vor ihm lag, schmal und erhellt nur von wenigen Laternen, derWeg. Er ging mit großen Schritten, jetzt hatte er es eilig, von hier wegzukommen. An der zweiköpfigen Palme vorbei, auf die Stufen zu. Von den Tropenpflanzen ging ein süßlicher Geruch aus.
    Er blieb stehen. Und drehte sich um. Valentinov stand noch immer dort; jetzt war er kaum mehr zu sehen.
    »Er hat sich nie verrechnet!« rief Marcel.
    »Wie bitte?«
    »Er hat sich nie verrechnet.«
    Valentinov hob den Kopf. »Sind Sie Physiker?«
    »Nein. Nein, wirklich nicht.«
    Valentinov zuckte die Achseln. »Dann müssen Sie mir wohl glauben.«
    »Haben Sie seine Aufzeichnungen noch?«
    Valentinov zögerte, schien einen Moment nachzudenken, dann schüttelte er den Kopf.»Verstehen Sie, wenn ich alles behalten würde, was man mir schickt, dann ... Ich bin nicht ganz unbekannt. Gibt es keine Kopien?«
    »Es gibt«, sagte Marcel, »keine Kopien.«
    »Dann werden wir es nicht erfahren. Sie werden mir glauben müssen.«
    Im See flatterte ein Vogel auf. Es roch nach Blüten und nach dem Wasser.
    »Wir werden es nicht erfahren«, sagte Marcel. »Aber das heißt nicht, daß ich Ihnen glaube.«
    Ein paar Sekunden sahen sie einander an. Valentinov schien, aber vielleicht war das eine Täuschung, noch immer zu lächeln. Dann drehte Marcel sich um und ging schnell davon. Valentinov blickte ihm nach, ohne etwas zu sagen, ohne sich zu rühren, eine schmale Gestalt zwischen der hellen Fassade und dem schwarzen, sehr schwarzen See, in dem ein Spiegelbild des Mondes über den Bergspitzen hing.
    Marcel stieg die Treppe hinauf, auf die Straße. Seine Gelenke schmerzten noch immer. Nun waren schon Sterne sichtbar. Und dort, mitten darin, ein Flugzeug: drei bewegte, blinkende Punkte. Die Luft war kalt. Ein großes Insekt flog vorbei; er hatte es kaum sehen können, denn eine Laterne war zerbrochen, und es war zu dunkel. Ihre Scherben knirschten unter seinen Schuhen. Ihr Mast ragte kopflos über ihm auf.
    Er ging schneller. Dort war das Hotel, und davor stand sein Auto. Er mußte sich beeilen. Es war noch ein weiter Weg.
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