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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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einem Regionalprogramm, aber unzählige Apparate konnten es empfangen, und irgend jemand würde alles verstehen, es sich merken, vielleicht nur ein einziger. David trat vor, an das Pult.
    »Ich muß etwas sagen. Zu Ihnen ... allen.« Ihm war schwindlig, der Fußboden schien schwach zu beben, er mußte sich am Pult festhalten.
    Doch seine Augen hatten sich an die Helligkeit gewöhnt. Die Menschen vor ihm starrten ihn an, einige waren aufgestanden, eine Frau schüttelte den Kopf und atmete schwer. »Bitte«, murmelte der Veranstalter, »würden Sie bitte ...!« Der Minister trat einen Schritt vor, streckte einen Arm nachihm aus, trat wieder zurück; sein Gesicht hatte rote Flecken bekommen. In der Tür stand Marcel und gab irgendwelche Zeichen; daneben lehnte lächelnd der Mann aus der Rezeption. Aber die Kamera lief, und sie war auf ihn gerichtet.
    »Wir hätten das schon längst finden können. Wir sind getäuscht worden, oder ... Oder haben uns getäuscht. Wahrscheinlich haben es schon andere gefunden, aber ... sie wurden rechtzeitig ... Ich habe etwas entdeckt.«
    Er spürte, wie sich Augen auf ihn richteten, nicht nur die der Menschen im Saal, sondern sehr viele mehr; er spürte, wie jedes seiner Worte hinausgeschickt und vervielfacht wurde; er spürte, wie das Wesen, das sich auf ihn zu bewegte, schneller wurde, jetzt hatte es ihn gesehen, und es gab kein Versteck mehr, und gleich würde es hier sein, gleich ... Er sprach weiter. Er sah, wie die Blicke der Menschen sich veränderten, als er mit den Zahlen anfing, die Frau schüttelte ihren Kopf heftiger, der Mann neben ihr grinste gequält, der Minister winkte jemanden heran, Marcel hatte die Hände vor sein Gesicht gelegt. Der Veranstalter zog David am Ärmel; aber er hielt sich am Pult fest und sprach, so schnell er konnte, so laut er konnte, um den anschwellenden Lärm zu übertönen. Sein linker Arm fühlte sich taub an, seine Finger spürten das Holz des Pultes nicht mehr. Er schloß die Augen. Die Dunkelheit schien schwach zu leuchten. Er beugte sich näher zum Mikrofon. Eine Hand legte sich auf seine Schulter, er klammerte sich an das Pult.
    »Es sind zunächst vier Formeln«, schrie er. »Eine folgt aus der anderen, am wichtigsten ist die vierte. Die Variablen habe ich gerade definiert ...« Der Griff um seine Schulter wurde fester, der Veranstalter rief etwas, irgendwo lachte jemand. Er hielt sich am Pult fest, mit beiden Händen, er hoffte wenigstens, daß es beide waren, denn die linke spürte er nicht mehr, und er wußte nicht genau, ob sie ihm gehorchte. Für einen Moment nahm ein Hustenanfall ihm den Atem. Seine Stimme war heiser, aber sie versagte noch nicht. Er begann mit der ersten Formel.

XIII
    Und spürte, wie etwas auf ihn zu raste, schneller noch als vorhin, schneller als jemals, beschleunigt durch ihn selbst, durch die Gefahr dessen, was er aussprach, was noch niemals ausgesprochen worden war, in allen Jahrhunderten nicht, was niemals ausgesprochen werden durfte, in aller Zukunft.
    Er hörte sich reden. Spürte, wie seine Worte umgewandelt und davongetragen wurden. Transportiert von einem den Planeten umspannenden Feld. Wie sie als elektrische Emissionen die Atmosphäre füllten, weithin hallend, in knisternder Verschlüsselung, aufgefangen von den Antennenwäldern der Städte. Das alles geschah jetzt, genau jetzt, so schnell, daß die Zeit selbst überlistet wurde.
    Die erste Gleichung. Er fühlte die Bewegung dessen, was auf ihn zukam, die Straße entlang, über die er gefahren war: Die Bäume wurden zu einem verschmierten Grün. Die Gebäude verschmolzen mit dem Erdboden, die Wolken zu einem Gemisch von Blau und Weiß. Er sah es ganz deutlich.
    Die zweite Gleichung.
    Das Land war jetzt nur mehr ein Flimmern, die Sonne verfärbte sich ins Violette, alles zerging in Geschwindigkeit. Von irgendwo hörte er Rufe, spürte, wie Hände nach ihm griffen und ihn wegzerren wollten, aber das war nicht wichtig, nichtjetzt, nur noch ein Versuch ihn zu täuschen, nicht mehr. Die zweite Gleichung.
    Ein Vibrieren ging durch den Raum, breitete sich aus, in wachsenden Kreisen, wie Wellen auf Wasser, von dem Ort, an dem er stand und sprach. Für einen Augenblick sah er sich neben sich stehen; umflammt von Sonnenstrahlen, und das war schwindelerregend und abstoßend, ihm war, als ob ein Strudel sich öffnete, ein saugender, lebendiger Abgrund ... Die Kreise weiteten sich, schon lief ein Zittern durch die näheren Sternbilder; irgendwo wurde die Explosion
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