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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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mit dem Blitz«, sagte David, »sollte dich nicht wundern. Es ist bloß unwahrscheinlich, aber nicht einmal so sehr, wenn man mitten durch ein Gewitter fährt. Glaub mir, es gibt viel ungewöhnlichere ...«
    »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung!«
    David mußte sich eine Hand vor die Augen halten; das große Gebäude mit seinen vielen Fenstern spiegelte die Sonne so stark, daß man kaum hinsehen konnte: ein Viereck blendender Helligkeit am Rand des von Lichtreflexen überzogenen Sees. Sie passierten eine Serpentine nach der anderen; das Dorf war abwechselnd rechts und links von ihnen; das Hotel kam näher und wuchs.
    »Was hast du eigentlich vor? Willst du hineinlaufen, ihn aus der Konferenz ziehen und ihn zwingen, dich anzuhören?«
    »Ja«, sagte David, »genau das.« Seine Augen schienen größer als sonst, sie sahen feucht aus und hatten einen merkwürdigen Glanz. Eine Ortstafel schnellte vorbei. Und dann fuhren sie schon an Häusern vorüber (auf einem Balkon lag eine fast nackte Frau, auf einem anderen saß eine Familie um einen Tisch, auf einem dritten aß ein Mann einen Apfel). Für einen Moment war rechts von ihnen der gepflasterte Uferweg zu sehen, auf dem gerade ein Kind mit seinem Fahrrad umkippte, dasGesicht verzerrte, zu weinen begann. Marcel parkte hinter dem Übertragungswagen.
    »So!« sagte er. »Viel Glück!«
    David nickte und stieg aus. Warme Luft schlug ihm entgegen. Sein Herz machte einen falschen, nicht in den Rhythmus passenden Schlag. Er griff sich an die Brust und horchte: Nein, es schlug normal. Er sah auf. Das Hotel: ein Turm, in dem sich Berge, Himmel und See verdoppelten. Zwei Glastüren teilten sich summend, und er stand in der Halle.
    Auf dem Boden war ein Teppich mit einem komplizierten, vielfarbigen Muster; hinter dem Rezeptionstisch saß ein Mann und las in einer Zeitung. Einen Moment lang nahm das Teppichmuster Davids Aufmerksamkeit gefangen, dann durchschaute er es (im Grunde war es simpel), vergaß es, ging auf die Rezeption zu.
    »Wo ist der Kongreß?«
    »Kongreß«, wiederholte der Mann, ohne aufzusehen. »Kongreß?«
    David nahm ihm die Zeitung aus der Hand, schlug Seite vier auf und zeigte stumm auf den Artikel. Der Mann griff danach, schloß ein Auge und leckte sich die Lippen.
    »Ja«, sagte er dann, »so. Das Kolloquium. Durch die Halle, dann die große Tür.«
    David wandte sich ab und ging. Am Ende der Halle waren zwei Türen. Er öffnete die rechte. Ein Schwall feuchtwarmer Chlorluft; weiße Kacheln;eine Decke voll tanzender Lichtpunkte; ein blaues Viereck von Wasser; darin ein dicker, schnaufender Mann mit Glatze. Das Schwimmbad. David schlug die Tür zu und öffnete die andere.
    Er mußte blinzeln. Der Raum war überraschend klein. Seine hintere Wand war vollständig aus Glas; genau über dem Gletscher stand eine riesige Sonne und überstrahlte alles; für einen Moment war David fast blind. Dann konnte er wieder Umrisse erkennen. Ein Pult mit einem Mikrofon, davor Stühle, acht oder neun Reihen, voll Menschen; viel weniger, als er erwartet hatte. Hinter dem Pult stand ein Mann. Wieder ein falscher Herzschlag: alles schien einen winzigen Sprung zu machen.
    »Entschuldigung!«
    Der Mann sah ihn an. Die Leute in den Sitzreihen begannen zu murmeln. Jemand stand auf.
    »Ich muß Sie sprechen!« David rieb sich die Augen, aber es half nicht. Er sah nur eine hell umrahmte Gestalt im Gegenlicht.
    »Ja, bitte?«
    David ging auf das Fenster zu, hinter dem sich die Silhouetten der Berge abzeichneten, das Weiß des Gletschers, das Dunkelblau des Sees, und drehte sich um und betrachtete den Mann im klaren, direkten Licht: Ja, er kannte dieses Gesicht! Es war rund und bartlos und hatte breite Wangen und graue Haare und blinzelte ihn an – und es war sicher nicht das Gesicht Valentinovs.
    »Was möchten Sie?«
    Noch ein falscher Herzschlag, sie kamen jetzt häufiger. Wieso kannte er diesen Mann, das war doch ... Dann fiel es ihm ein.
    »Wo ist Valentinov?«
    »Vor einer halben Stunde gegangen«, sagte der Wissenschaftsminister. »Also, was gibt es?«
    Jemand in der ersten Reihe war aufgestanden und kam auf David zu, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet, offenbar der Veranstalter. »Mein Herr«, sagte er leise, »würden Sie bitte ...«
    In der Ecke, vom Fenster abgewandt, gerichtet auf das Rednerpult, stand eine Fernsehkamera; dahinter bückte sich ein Mann und blickte durch das Okular. Ja natürlich, dort war der Wissenschaftsminister, und seine Rede wurde ausgestrahlt, auf
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