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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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daß er das nicht wollte, daß er keine Sekunde länger bleiben würde als unbedingt notwendig. Seit zwei Tagen hatte er nicht geschlafen (bis auf die halbe Stunde, hier auf der Bank), und es war noch eine lange Fahrt. Er ging los in die Richtung der Straße, wo sein Auto parkte. Der feuchte Steinweg flimmerte rötlich, das Wasser sah fremd und blutig aus; die Felswand glänzte. Er ging an einem Orchideenbeet vorbei, vorbei an einer zweiköpfigen Palme, in der Dämmerung fast unheimlich, vorbei an einemMann, der ruhig dastand, gelehnt auf einen Spazierstock, und durch seine Brille den Sonnenuntergang beobachtete.
    Marcel blieb stehen. Er trat näher, der andere schien ihn nicht zu bemerken.
    »Herr Valentinov?«
    Der Mann sah ihn an. Er nickte.
    »Ich habe Sie gesucht. Den ganzen Tag. Eigentlich nicht ich, sondern ... ein Freund von mir. Er hatte heute nachmittag einen Herzinfarkt.«
    »Doktor Mahler«, sagte Valentinov, »ich weiß. Ich habe es gesehen. Ich habe auch den Krankenwagen gerufen. Deswegen habe ich den Zug versäumt und ... Aber das ist jetzt egal.«
    »Und?«
    Das letzte Licht umrahmte Valentinovs Gestalt, machte sie zu einer schmalen Silhouette. Er senkte den Kopf und betrachtete den Knauf seines Spazierstocks. »Was meinen Sie?« Irgend etwas an ihm, an seinem Blick, kam Marcel vertraut vor.
    »Konnte er noch mit Ihnen reden?«
    Valentinov sah seinen Stock an, als wäre dort die Antwort. Dann schüttelte er den Kopf. Ein längliches Insekt löste sich von der Palme und stand ein paar Sekunden neben ihnen in der Luft. »Er war deswegen hier, ja?«
    »Ja«, sagte Marcel, »deswegen.«
    »Wegen seiner Theorie über die Zeit? Der zweite Hauptsatz?«
    »Das wissen Sie?« Hinter ihnen schob eine Frau einen Kinderwagen vorbei, aus seinem Inneren drang das wütende Murmeln eines Säuglings. Valentinov sah sich neugierig um.
    »Ich habe gestern nachmittag von einem Eilboten Doktor Mahlers Notizen bekommen. Außerdem hat er, soviel ich weiß, vor einiger Zeit einen Vortrag gehalten. Ich war dort, in der letzten Reihe, bin dann aber bald gegangen. Ein kleiner Skandal, man hat eine Weile darüber gesprochen. Ein paar Kollegen waren ziemlich begeistert.«
    »Sie kennen seine Theorie?«
    »Ich habe mir im Zug seine Aufzeichnungen durchgesehen. Eine seltsame Handschrift, viele Abkürzungen, eine etwas unkonventionelle Notation, und ehrlich gesagt, das Licht war nicht sehr gut, aber ... Doch ja, im Prinzip kenne ich sie.«
    »Und?«
    Valentinov schwieg. Marcel bemerkte, trotz seiner Nervosität, viele Dinge: Die Sonne war hinter den Bergen verschwunden; die Gipfel zeichneten sich dunkel vor dem Himmel ab. Auf der Straße ertönte eine Autohupe. Ein Kind weinte. In dem Hotel hinter ihnen waren jetzt alle Fenster erleuchtet, die ganze gläserne Fassade.
    »Ich weiß nicht«, sagte Valentinov, »ob ich Ihre Frage verstehe.«
    »Was ...« Marcels Stimme klang heiser; er räusperte sich. »Was halten Sie von seiner Theorie? Ich glaube nicht, daß das eine schwierige Frage ist!«
    »Und ich glaube nicht«, sagte Valentinov langsam, »daß jetzt der richtige Moment ...«
    »Bitte antworten Sie!«
    »Wissen Sie, ich bekomme oft so etwas. Und immer wieder geht es um dieses Problem: die Zeit, der zweite Hauptsatz ... Ich sehe es mir jedesmal an, es könnte ja ... Aber ...«
    »Ja?«
    Das Kind schrie wieder. Vom See her kam kühler Wind auf, ein flüsterndes Geräusch.
    »Leider.« Valentinov schüttelte den Kopf. »Obwohl es zunächst interessant aussah, und für einen Moment wurde ich auch stutzig, aber ... Ich würde Ihnen das lieber nicht unter diesen Umständen sagen. Aber nicht einmal seine Berechnungen waren richtig. Und der Rest – spekulativ! Reine Spekulationen, keine Wissenschaft. Nichts davon haltbar.«
    »Danke«, sagte Marcel leise, »das wollte ich wissen.«
    Valentinov hob seinen Stock – eine erstaunlich schnelle, graziöse Bewegung – und zeigte auf den Himmel. »Sehen Sie, bald werden wir die Sternbilder sehen, von hier oben geht das sehr gut. Aber wie Sie genau wissen, sind es keine Bilder; sie haben nichts mit uns zu tun. Alles hier ...« Er machte eine kreisende Bewegung mit dem Stock. »... hat mit uns nichts zu tun. Und immer wieder treffe ichMenschen, die das nicht akzeptieren. Die sich lieber verfolgt und angegriffen fühlen, als umgeben von einer gleichgültig kalten Welt.« Er senkte den Stock. »Aber das heißt nicht, daß er kein Talent ist, Verzeihung, war. Das alles ist durchaus ungewöhnlich
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