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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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Blitz.
    Ein Welle von Donner rollte ihnen entgegen, brach sich, verebbte. Und noch ein Blitz, und noch einer, und der Donner wurde lauter, sie bewegten sich darauf zu. An einer Stromleitung tanzten bläuliche Funken entlang. Der nächste Blitz war noch greller, für einen Augenblick waren sie ganz umgeben von Licht.
    »Zum Teufel«, sagte Marcel leise, »so nah war ich noch nie dran!«
    Die Blitze schlugen jetzt nacheinander ein, fast ohne Pause, zu beiden Seiten der Autobahn. Und es schien auch kein Donner mehr zu sein, sondern ein ständiges, nicht mehr abbrechendes Dröhnen; der Lärm kam von überall, war überall, erfüllte die Luft. Marcel umklammerte das Lenkrad, David preßte sein Gesicht an die Scheibe. Die Blitze standen rechts und links von ihnen, streckten sich in den Himmel, bewegt wie Lebewesen, vom Erdboden in die aufgeladene Nacht.
    »Vielleicht«, sagte Marcel, »sollten wir ...«
    Das Krachen traf sie wie ein ungeheurer Schlag. Weiße Flammen liefen über das Fahrzeug, die Helligkeit brannte in ihren Augen, Marcel schrie auf. Die Straße glitt davon, drehte sich einmal, einzweites Mal, um sich selbst; Funken umsprühten sie, überall, wohin sie sahen; dann kam die Straße zum Stehen, und der Lärm war vorbei, und das Gleißen auch. Die Straße war leer. Und die Dunkelheit umschloß sie.
    Eine Weile saßen sie da, ohne zu sprechen. Ohne sich zu rühren. Mit der Straße stimmte etwas nicht; als wäre die Perspektive verschoben. Das Auto stand gegen die Fahrtrichtung gedreht.
    Jetzt waren es schon wieder einzelne Donnerschläge. Und die Blitze wurden weniger, schwächer, bewegten sich in Richtung der Stadt davon.
    Marcel hob seine Hand. Sie zitterte stark. Er griff nach dem Zündschlüssel, griff daneben, tastete, fand ihn. Zog die Hand wieder zurück. Es war nicht nötig: der Motor lief noch. Marcel trat auf das Gaspedal. Ganz langsam setzten sie sich in Bewegung. Er begann, das Fahrzeug zu wenden. Kein anderes Auto war zu sehen, die Straße war immer noch leer. Als wären sie die einzigen Menschen der Welt.
    »Das war ...« flüsterte Marcel. »Das war ein ... Ich habe noch nie ...«
    »Ein elektrisches Feld ...« David mußte husten; er rieb sich die Augen »Ein Feld kann nicht eindringen in ... einen von einem Leiter umschlossenen Raum. So ist das. Immer.«
    Marcel sah ihn an. »Ist das wirklich alles, was dir jetzt einfällt?«
    Hinter ihnen war noch der Donner zu hören, aber schon gedämpft und fast harmlos, und von Zeit zu Zeit flackerten noch einzelne Blitze im Rückspiegel. Marcel schaltete und schaltete noch einmal, die Nadel in der Anzeige stieg, und sie erreichten ihre normale Geschwindigkeit.
    »Es funktioniert noch«, sagte Marcel leise. »Alles.«
    »Natürlich.«
    »Bist du einverstanden, wenn wir ... Wenn wir diese Nacht einfach vergessen? Alles, was seit gestern passiert ist? Wir fahren zu deinem Kongreß, aber wir reden nicht mehr davon. Gut?«
    David nickte.
    »Dann tu mir noch einen Gefallen.«
    »Ja?«
    »Ich weiß, das wird nicht leicht sein. Und es ist auch nicht höflich von mir. Aber ich kann jetzt einfach nicht mehr mit dir reden. Ich kann nicht. Bitte schlaf wieder ein!«

XII
    Das Dorf bestand aus alten Häusern und einigen neu gebauten, gläsernen Hotels. Es lag neben einem See, in einem Becken aus zerklüfteten Bergen, deren höchster einen pyramidenförmig spitzen Gletscher hatte. Eine Felswand reflektierte die Sonnenwärme und machte es möglich, daß am Seeufer Tropenpflanzen wuchsen, gesetzt und gepflegt von einem extra dafür angestellten Gärtner, und daß dort Möwen lebten und auch zwei Schwäne, fett vom Vogelfutter der Urlauber. Das Dorf hatte eine alte Kirche und einige Geschäfte und einen Fremdenverkehrsverein, der oft Veranstaltungen organisierte, über welche die Zeitungen berichteten und manchmal sogar das lokale Fernsehen. So auch heute: Vor dem größten Hotel stand unübersehbar ein Übertragungswagen. Die Straße lief von hier aus vorbei an zwei kleineren Hotels und der Kirche (umschnürt von einem Baugerüst und fast unsichtbar), bog um einen vorspringenden Felsen, schlängelte sich in Windungen dem Paß zu, von dem sich, funkelnd in der Sonne, ein Fahrzeug herab bewegte.
    »Schön, nicht?« Marcel seufzte. »Schade, daß ich keine Ferien habe und jetzt im Büro sein müßte. Und daß ich kein Frühstück hatte und nicht einmal rasiert bin und ... Ach Gott!« Erseufzte und schwieg. Seine Augen waren dunkel umrandet, er sah blaß und müde aus.
    »Das
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