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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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einer Gaswolke ungeschehen, und ein Planet einer namenlosen Sonne lief rückwärts auf seiner Bahn. Die Zeit verschwamm. Er mußte zu Ende kommen.
    Denn es näherte sich. Er hatte sich nun gezeigt, er konnte nicht mehr entkommen. Was immer ihn verfolgte, gleich würde es hier sein. Gleich. Er mußte es aussprechen. Er mußte sofort alles aussprechen.

XIV
    Sie zogen ihn weg, einer von rechts, einer von links, jemand drehte ihm einen Arm auf den Rücken; aber er klammerte sich mit dem anderen Arm ans Pult und brachte die zweite Formel zu Ende. Dann lösten sich seine Finger. Noch folgte ihm die Kamera, und er begann mit der dritten, er schrie, so laut er konnte, um den größer werdenden Abstand zum Mikrofon zu überwinden. Der Minister nickte, trat wieder ans Pult und begann zu sprechen. David brüllte weiter, der Raum bewegte sich an ihm vorbei, der Fußboden schlug gegen seine Fersen, die Sonne strahlte noch heller, ließ die ganze riesige Glasscheibe aufleuchten. Immer noch war die Kamera auf ihn gerichtet, immer noch, – aber jetzt schwenkte sie zurück, zum Pult, zum Minister. »Nein!« schrie David. »Sie müssen mir zu ...« Einer der Männer, die ihn festhielten, legte ihm die Hand auf den Mund; für einen Moment sah er noch die ärgerlichen, verständnislosen Blicke der Sitzenden, dann wurde er hinausgezerrt, und dann fiel die Tür vor ihm zu.
    Ihre Griffe lockerten sich. Es waren zwei eher gutmütig aussehende Männer, einer davon in einer Livree, offenbar Angestellte des Hotels. Sie führten ihn durch die Halle, an der Rezeption vorbei, auf den Ausgang zu. Er wehrte sich nicht mehr.
    »Wohin bringen Sie ihn?« hörte er Marcel fragen.
    »Ich glaube«, sagte einer von ihnen, »wir sollten die Polizei ...«
    »Aber ich bitte Sie«, sagte eine andere Stimme, »das ist doch nicht nötig! Dieser Mann ist völlig harmlos. Er ist bloß verrückt.« David versuchte sich umzudrehen, aber er brachte es nicht fertig, sie hielten ihn zu fest. »Lassen Sie’s doch! Werfen Sie ihn einfach hinaus.«
    Die beiden zögerten, dann stießen sie ihn auf die Straße. David taumelte hinaus, in die Hitze.
    »Hier kommen Sie nie wieder rein. Verstanden?«
    »Er hat verstanden«, sagte die Stimme. »Keine Sorge!« Die beiden nickten und verschwanden im Hotel. David drehte sich um. Hinter ihm stand der Mann aus der Rezeption. Er lächelte. »Das war ein guter Versuch. Wirklich sehr gut!« Er kam David bekannt vor. Er hatte gelbliche Zähne und eine Zahnlücke ganz vorne. Sein Schatten lag schmal auf dem Boden.
    »Komm!« sagte Marcel. »Wir fahren heim. Und Ihnen vielen Dank, das war sehr freundlich!« Er griff in die Tasche.
    »Nein, ich bitte Sie! Nicht von Ihnen. Nicht dafür. Deswegen bin ich doch hier.« Er sah David an. »Sie wollen schon fahren?«
    David nickte.
    »Ein berühmter Mann sind Sie jedenfalls geworden! Ein netter Auftritt. Gab es sonst nichts, das Sie hier tun wollten?«
    »Ich wollte jemanden treffen, Valentinov, aber der ist schon ...«
    »Ja, er ist eben abgereist. Ich habe selbst für ihn reserviert. Sein Zug geht in einer halben Stunde.«
    »Mein Gott!« rief David. »Wo ist der Bahnhof?«
    Der Mann hob langsam seine linke Hand, streckte den Zeigefinger aus und wies auf ein Gebäude über dem Seeufer.
    »Woher kennen wir uns?« fragte David.
    »Ich kenne viele Leute.«
    Ihre Blicke trafen sich. David öffnete den Mund, zögerte, schloß ihn wieder. Dann drehte er sich um und lief los. Er versuchte jedenfalls zu laufen, aber seine Beine gehorchten kaum, und seine linke Hand war vollständig gefühllos. Die Luft war warm und zäh wie eine Flüssigkeit. In seiner Brust schmerzte etwas.
    Marcel holte ihn ein. »Du hast dich doch schon genug zum Idioten gemacht, oder? Was soll das? Was hast du jetzt wieder vor?«
    »Lauf voraus«, keuchte David, »zum Bahnhof!«
    »Du mußt zu einem Arzt, du siehst furchtbar aus!«
    »Tu was ich sage!«
    »Ich weiß nicht einmal, wie Valentinov ...«
    »Er ist klein und hat eine Brille und einen Bart. Lauf schon!«
    Marcel schüttelte den Kopf, begegnete Davids Blick und – begann zu rennen. Und entfernte sich in die Richtung des Bahnhofes. Die Sonne schien größer geworden, sie war jetzt so hell, daß man nicht mehr klar sehen konnte. Der Schweiß lief David über das Gesicht. Die Schmerzen in seiner Brust wurden in rhythmischen Abständen stärker und schwächer, stärker und wieder schwächer. Er holte die Spraydose aus der Tasche, führte sie zum Mund, atmete ein – es
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