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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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See war beruhigend, seine eisige Helle, und daß man sich hineinwerfen konnte und daß sie einen aufnehmen würde und fest und sicher umgeben, jederzeit und für immer.
    Vielleicht würde keiner mehr finden, was er gefunden hatte; vielleicht war das die einzige Möglichkeit, und niemand sonst würde es jemals wissen. Doch wenn es (er fühlte einen so starken Stich in seiner linken Brust, daß er fast hingefallen wäre,aber er durfte nicht hinfallen, denn dann, das war ihm klar, würde er nicht mehr aufstehen) – wenn es tatsächlich ein Irrtum war? Er hielt die rechte Hand über seine Augen: Das half ein wenig, und er erkannte wieder den Weg und wohin er gehen mußte; der Schweiß lief ihm über das Gesicht, sein Hemd klebte, er schüttelte die linke Hand, aber er spürte sie nicht. Gut, wenn es ein Irrtum war – warum wurde er dann getötet?
    Ihm fielen die Steine ein, die immer hinunter fallenden, und wie seltsam er es gefunden hatte, daß sie nicht aufstiegen; das Geheimnis der Schwere und all der Regeln, an die jedes Ding sich hielt; wieso hatten sie ihm stets angst gemacht ...? Eine Welle, höher als die anderen, überspülte den Stein vor seinen Füßen, verdunstete in Sekunden. Er richtete sich auf. Gegen den Schmerz und die Müdigkeit, gegen die Last seines Körpers. Neben einer Palme stand wieder eine der Pflanzen mit den dürren Blättern; einen Moment lang zeigte sich seinem Gedächtnis ein blau glänzender Raum, früh morgens, gefärbt von der Angst nach einem Alptraum, aber dann entglitt ihm das Bild, noch bevor er es erkannt hatte.
    Er würde nicht mehr lange gehen können. Das spürte er. Der Weg schien jetzt uneben, immer wieder aufgewölbt. Zwei Möwen landeten auf dem Wasser. Nirgendwo war Schatten. Der Gletscher spiegelte sich im See. Ein Gärtner mit einem Strohhutstocherte neben dem Weg in der Erde. Vom Dach eines Hotels wehte eine gelbe Fahne. Eine Ente sprang platschend ins Wasser, schrie auf und paddelte davon. In der Helligkeit vor ihm zeichnete sich ein Umriß ab und wurde deutlicher: Ein Mann kam ihm entgegen, die Hände in den Taschen, den Kopf in den Nacken gelegt. Er hatte einen spitzen Bart und eine spiegelnde Brille, zwei runde Gläser, vom Wasser blau gefärbt. Boris Valentinov.
    David stieß einen Schrei aus, der Gärtner sah auf. Seine Schritte beschleunigten sich, jetzt fiel es ihm leicht. Er streckte die Arme aus und begann zu laufen. Sein Puls ging schnell vor Aufregung. Noch hundert, nein: hundertsiebzehn (er sah es genau) Schritte entfernt, bei dieser Geschwindigkeit. Die Ente tauchte unter und zerstörte das Spiegelbild des Gletschers. Noch fünfundsiebzig Schritte. Das Spiegelbild formte sich von neuem. Valentinov blieb stehen. Fünfundsechzig Schritte.
    Da schoß etwas auf ihn zu. Aus dem Himmel, mitten aus der blauen Wölbung; raste heran; er spürte es am ganzen Körper. Sechzig Schritte.
    Und schlug lautlos vor ihm auf. Ein Zittern lief durch den Boden, eine Welle hob sich und brach an der Steinkante, die Fahne blähte sich und riß knatternd an ihrem Mast. Für einen Augenblick schien es Funken zu regnen, blitzende Punkte aus Feuer.
    David blieb stehen. Er konnte nicht weiter, keinenSchritt mehr in diese Richtung. Auf die Gestalt zu: Er sah sie deutlich, aber ihre Umrisse veränderten sich, und er konnte sie noch nicht erkennen. Durch sie hindurch sah er Valentinov langsam und lächelnd weitergehen. Auch das Kind mit dem Fahrrad hatte gewendet und kam wieder zurück. Da wurden die Umrisse fest und die Gestalt sichtbar, in allen Details, vollständig sichtbar. David sah sie an. Er fühlte keine Angst mehr, auch keinen Schmerz, nicht einmal Müdigkeit. Es war soweit. Sie hatten ihn gefunden.

XV
    Als ob etwas in seiner Brust explodierte. Der Schmerz raste durch ihn, erfüllte ihn, erfüllte alles, erfüllte die Welt und – war vorbei. Er fiel.
    Er ging in die Knie. Seine Arme hatten sich ausgebreitet. Die Konturen der Gestalt verschwammen wieder: Sie wurde durchsichtig, löste sich auf, und dann war da nur noch Valentinov, der schnell näherkam, mit einem erschrockenen Gesicht. Und der See natürlich, und der Himmel, und der See; der eine warf das Blau des anderen zurück. Und das Steinpflaster, das gegen seine Knie drückte – auch das tat nicht weh, und die Blume dort, wie sie glänzte, wie ihre Blätter im Wind zitterten. Die Sonne und das in so vielen Spiegelungen gehaltene Licht.
    Er sah, wie Valentinov auf ihn zulief, Schritt für Schritt, wie gegen einen
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