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Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied

Titel: Sternenseide-Zyklus 2 - Das Blaue Lied
Autoren: Sydney J. Van Scyoc
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1 Keva
    Es war Morgen; vom träge dahinströmenden Fluß stieg Nebel auf und verhüllte das Ufer, an dem Keva spazierenging. In der Ferne vernahm sie das Zischen eines Geysirs. Nicht weit von ihr schwankten Hochweeds auf der Wasseroberfläche, die gelben Blüten noch im dunstigen Morgengrauen geschlossen.
    Keva zitterte, aber nicht vor Kälte, sondern wegen der Träume, die sie in Okis Hütte gehabt hatte. Feuer – sie hatte schon wieder von Feuer geträumt; die durchdringende Helle, die allseitig von schroffen Berggipfeln eingefaßt wurde. Während sie zugeschaut hatte, war es über die Hänge der Berge gewabert und hatte gen Himmel geleckt; höher und höher hatte es gelodert, bis die glühende Hitze all ihre Träume ausgefüllt hatte. Sie war mit brennenden Lungen und fiebrigen Wangen erwacht. Erwacht mit dem Gefühl, daß sie im Begriff gewesen war, etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollte, etwas Schreckliches und Verwirrendes ... Sie hatte sich zitternd angezogen und war aus der Hütte gestolpert, hatte Oki und Lekki schlafend zurückgelassen.
    Das Bild des brennenden Himmels war so realistisch gewesen, daß es noch in ihr verblieb, trotz des Nebels und fließenden Wassers. Keva zog ihre gefütterte Jacke enger um sich, ihr war heiß und kalt zugleich. Warum träumte sie vom Feuer in den Bergen, wenn sie, wie Oki behauptete, die Berge im Norden noch nie gesehen hatte? Par saß zuweilen –die Kinder zu seinen Füßen gelagert – am Flußufer und erzählte Geschichten von Frauen, die in den Bergen lebten und das Sonnenfeuer so mühelos an sich zogen, wie Oki Wasser aus dem Warmfluß schöpfte. Er nannte sie Barohnas, und er kannte viele Geschichten über die Barohnas und die Menschen, die von ihnen regiert wurden, denn auch die Warmstromleute hatten einst in den Bergen gelebt.
    Obwohl Keva jetzt zu alt war, um zu Pars Füßen zu hokken, waren ihr seine Geschichten in den vergangenen Tagen oft in den Sinn gekommen. Als sie jung gewesen war, hatte sie die Geschichten ohne Fragen akzeptiert, aber seit kurzem störte sie der Eindruck, daß sie unvollständig waren; daß sie einen Teil der Wahrheit verschwiegen. Träumte sie deshalb so oft vom Feuer? Weil die Einzelheiten in Pars Geschichten sie beunruhigten? Oder träumte sie vom Feuer, weil sie die Berge gesehen
hatte –
als sie hinter dem bärtigen Mann geritten war? Weil sie etwas über das Feuer wußte; etwas, das sie verdrängt hatte? Etwas, was sie nicht genauer untersuchen wollte?
    Keva spähte umher und erwartete fast, daß Oki in ihrem Abendumhang kommen und alles leugnen würde. Oki behauptete, nie Feuer in den Bergen gesehen oder das merkwürdige und beunruhigende Poltern gehört zu haben, das sie manchmal schluchzend aus dem Schlaf fahren ließ. Oki behauptete, nie auf einem weißen Roß mit wehender Mähne geritten zu sein und nie ein blaues Lied, das keine Worte besaß, gehört zu haben. Oki behauptete, es gäbe keinen bärtigen Mann. Laut Oki hatte Keva schon immer neben dem Warmstrom gelebt und war die Tochter von Weedsammlern, die eines Tages ertrunken waren, als die Tiefweeds ihre Stengel der Sonne entgegengestreckt und sich vorübergehend zusammengeballt hatten, als ein Sturm aufgekommen war und ihr Boot in die Tiefe gezogen hatte.
    Keva runzelte die Stirn und schritt tiefer in den Nebel. Was Oki erzählte, war plausibler als die Vorstellung, sie sei aus den Bergen gekommen. Aber es gab einen Widerspruch in ihrem Verhalten. Wenn sie nur Kevas Geschichte erzählte, so wie es sich zugetragen hatte, warum erstarrten dann ihre massigen Gesichtszüge, wenn Keva ihr Fragen stellte? Und so sehr sie sich auch bemühte, Keva konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Sie konnte sich nicht an ihre Berührungen erinnern – an den Geruch ihrer Kleider oder den Klang ihrer Stimmen; nicht einmal hier, wo der Nebel die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischte.
    Aber sie erinnerte sich deutlich an den bärtigen Mann, an die Düsternis in seinen Augen, sein rastloses Umherschauen und seine unruhigen Bewegungen. Er war ein umherstreifender Mann, ein suchender Mann, und eine Zeitlang hatte sie mit ihm gesucht.
    Oder sie hatte geträumt, mit ihm zu suchen.
    Keva zog die Jackenärmel tiefer und versuchte, ihre Finger zu erwärmen. Nein, sie glaubte nicht daran, daß der bärtige Mann ein Traum war; egal, was Oki sagte. Sie ging langsam zum Wasser und blickte auf ihr Spiegelbild. Sie war groß und schlank. Sogar durch die Aura des düsteren Nebels
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