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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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half nicht. Er drückte noch einmal auf den Sprühknopf. Aber es half nicht. Er schleuderte die Dose von sich; mit einem hellen Metallgeräusch prallte sie auf und rollte davon.
    Und er ging und ging, aber er kam sehr langsam voran. Es war, als ob die Luft selbst ihn aufhielt oder der Boden ihn stärker anzog oder die Hitze sich an ihn heftete und es ihm schwerer machte, sich zu bewegen. Sein Herz trommelte, sein Atem ging in kurzen Stößen. Die Schmerzen wurden stärker. Er ging jetzt an Geschäften vorbei; in den Auslagen waren Halsketten, Spazierstöcke, Uhren, wieder Halsketten. Menschen standen davor und starrten hinein, ein Kind schob ein Fahrrad vorbei. Vom Asphalt stieg Wärme auf, am Himmel stand keine einzige Wolke. Wieder ein Fenster mit Uhren: ein Dutzend runder, tickender Geräte; all diese Zeiger; die hüpfenden Bewegungen, mit denen sieden Sekunden folgten, das große Wettrennen. David stöhnte, eine Frau sah sich verwundert nach ihm um. Ging es nicht schneller? Es ging nicht schneller. Er stemmte sich gegen die Hitze, gegen seine Langsamkeit, gegen das Gewicht seines Körpers, die Schmerzen. Der Bahnhof kam näher.
    Die Sonne schien jetzt größer. Auf den Hauswänden flackerte der Widerschein des Sees. Ein Mähdrescher fuhr vorbei, David stolperte zur Seite, und für einen Moment umhüllte ihn der betäubend starke Geruch von frischem Gras. Weiter.
    Um eine und um noch eine Kurve, der Straße nach. Vor einem Kaffeehaus saßen Leute an weiß glänzenden Tischen, redeten, klapperten mit Geschirr, hoben und senkten Tassen. Er versuchte die Luft anzuhalten, weil das Atmen so weh tat, aber lange konnte er das nicht, und er bekam einen Hustenanfall. Er hatte Durst.
    Da war schon der Bahnhof. Drei Stufen führten in eine leere Halle. Zwei Schalter, ein Geschäft mit Zigaretten und Zeitungen. Er trat auf den Bahnsteig.
    »Da bist du ja!« Marcel saß auf einer Bank, die Beine übereinandergeschlagen, eine Zigarette im Mund. »Die Frau am Schalter sagt, daß jemand, der aussah wie Valentinov, sie gefragt hat, wann sein Zug geht und ob er noch Zeit für einen Spaziergang am See hat. Diese kleinen Dörfer sind praktisch, wir müssen nur warten, bis er zurückkommt. Setz dich hin, du siehst schrecklich aus!«
    David lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich weich an, fast nachgiebig. Er sah den Schienen nach: zwei Geraden, die funkelnd aufeinander zuliefen und, bevor sie sich treffen konnten, in der schwarzen Mündung eines Tunnels verschwanden. Er brauchte ein paar Sekunden, dann konnte er wieder sprechen.
    »Nein, wir warten nicht. Wir haben keine ...« Er unterdrückte einen Aufschrei, ein plötzlicher Stich in seinem Herzen nahm ihm die Luft. Er drehte sich um und ging durch die Halle, wieder hinaus. Marcel warf die Zigarette weg und lief ihm nach.
    Von der Straße führte eine schmale Treppe zum Ufer. David hielt sich am Geländer fest und stieg vorsichtig hinunter, Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. »Du wirst nach links gehen, ich nach rechts. Wenn du ihn siehst, rufst du mich!«
    »Das ist doch Unsinn! Wir warten hier! Warum sollte ich das tun?«
    David blieb stehen. Vor ihm streckte sich der See aus. Das blitzende, lichtgestreifte Blau. Das Geräusch der an den Stein schlagenden Wellen. Er breitete die Arme aus, spürte die vom Wasser kommende Kühle, atmete tief ein, jetzt konnte er es wieder.
    »Weil«, sagte er, »ich dich darum bitte. Und weil du mir glaubst.«
    »Ich glaube kein Wort.« Marcel hob beideHände und ließ sie fallen; dann drehte er sich um und ging los. David blickte ihm nach, aber nach ein paar Sekunden konnte er ihn schon nicht mehr sehen; er schien in der Helligkeit verschwunden.
    Der Weg war gerade und gut gepflastert. Links lag der See, rechts standen Palmen und vielfarbige, fremde Blumen, die alle nicht hierher gehörten. Eine Orchidee schwankte hektisch im Wind. Er hatte die Sonne noch nie so groß gesehen. Die Berge waren nur mehr Umrisse, die Blüten schienen sich ihm entgegen zu recken. Eine Pflanze hatte Dornen und lange, dürre Blätter, die zitterten wie etwas Lebendiges; ihr Anblick weckte eine unbestimmte Erinnerung, aber bevor er sich darüber klarwerden konnte, war er schon vorbei. Ein Kind auf einem Fahrrad überholte ihn. Eine Frau blieb stehen und streckte den Zeigefinger aus. »Sie!« rief sie. »Eben im Fernsehen! Ja?« – »Ja«, sagte er und stolperte weiter. Ihm war, als ob er sich durch warmen Nebel bewegte. Nun tat schon jeder Atemzug weh. Bloß der
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