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Naerrisches Prag

Naerrisches Prag

Titel: Naerrisches Prag
Autoren: Lenka Reinerová
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An wen erinnert mich bloß diese Gestalt? Und wieso sitzt das hauchdünne und dennoch unübersehbare Wesen gleichzeitig an drei Tischen? Einmal an einem großen Fenster, hinter dessen Glasscheiben einheimische und touristische Menschen vorbeischlendern, auf die Straßenbahn warten, manchmal auch hereinschauen in das bekannte Prager Café. Niemand scheint jedoch die stumm dasitzende Erscheinung wahrzunehmen oder gar zu erkennen. Und in Prag kennt doch jeder beinahe jeden.
    Sie kann aber auch, und das ist verblüffend, zugleich sozusagen ein bißchen um die Ecke sitzen, dort wo die breiten Fenster ein Stück Moldau umfassen, die Karlsbrücke, die Burg auf dem Hradschin und wo das grünliche Bild mit dem Absinthtrinker an der Wand hängt, immer hing und wohl auch immer hängen wird. Leicht vernebelt, rauch- und absinthverschleiert.
    Der dritte Tisch, an dem das Wesen gleichzeitig sitzt, befindet sich jedesmal ganz in der Nähe, wenn mich manchmal ein Arbeitsgespräch, zumeist am frühen Vormittag, in dieses Lokal führt. Eine leicht verschwommene Figur, ungreifbar, bewegungslos, eher ein Schatten, aber mit glühenden Augen. Noch nie habe ich versucht, auf sie zuzugehen, weiß auch nicht, wie man solch eine Gestalt ansprechen könnte.
    Eigentlich erinnert sie mich an niemanden, diese Erscheinung, die geradezu regelmäßig und keinesfalls nur hier vor meinen Augen auftaucht, wenn ich in meinerStadt etwas erkunden, näher betrachten und richtig verstehen will, und die sich in nichts auflöst, sowie jemand zwischen uns tritt. Das müßte aber gar nicht so sein. Das geheimnisvolle Wesen weiß doch gewiß, daß nur ich es sehen kann.
    Übrigens war das nicht immer so, es zeigt sich mir erst in letzter Zeit. Könnte das vielleicht einen Zusammenhang mit den Begebenheiten haben, die in Prag überraschend und stets von neuem auf mich zukommen, mich bestürzen oder beglücken, verwundern und auf jeden Fall fesseln? Könnte dieses Wesen etwa ein Geist von Prag sein, ein Zauberer, der Magier dieser Stadt, dem viele nachspüren, den aber nur wenige begreifen können?
    Ich kann diese Erscheinung, wie schon angedeutet, gleichzeitig an drei Tischen im Café Slavia sitzen sehen, begegne ihr aber auch auf der Straße, in einem Menschengewühl oder sonstwo, vor allem dann, sowie jemand etwas absolut Unsinniges oder gar Häßliches über unsere Stadt verbreiten oder ihr zufügen will. Und weil dieses Wesen vielleicht doch wohl ein Zauberer ist, der kommt und geht, regungslos zuhört, alles aufnimmt und nichts verrät, kann ich bei ihm getrost abladen, was mir ungerufen und immer wieder unausweichlich begegnet in unserem wunderbar närrischen Prag. Ich zögere auch nicht, meinen stillen Begleiter um Beistand und Rat anzurufen, wenn sich mein Leben schwierig verknotet oder mir Rätsel aufgibt, deren Lösung ich nicht kenne.
    Da bin ich doch eines Tages durch den Pulverturm in die Celetná, die Zeltnergasse, marschiert, mit der durchaus praktischen Absicht, mir dort ein Paar Schuhe zu kaufen in einem seit Jahren bestehenden Geschäft. Das stelltesich freilich als Irrtum heraus, denn in dem großen Laden, auf den ich zusteuerte, wird nun Glas und Porzellan angeboten. Glas und Porzellan, die Waren, die ich vor mehr als einem halben Jahrhundert nach der Entlassung aus dem »sozialistischen« Gefängnis und meiner politisch motivierten Verbannung aus Prag in dem mir zugewiesenen Aufenthaltsort, der ostböhmischen Stadt Pardubice, in einer Musterabteilung betreute und zum Kauf anbot. Als Verantwortliche für diese Einrichtung des Kreisbetriebes für Haushaltsgebrauchsgegenstände, Sortiment Glas und Porzellan. Ein so aufschlußreicher Titel wurde mir damals verliehen.
    Also Glas und Porzellan ... Versonnen blieb ich mitten auf der Fahrbahn stehen, auf der sich zum Glück nur selten ein Auto durch das Touristengewimmel schlängelt.
    Mit einemmal vernahm ich eine Stimme, wandte mich um, sah niemanden, aber die Stimme blieb in mir.
    »Du stehst in der Celetná«, flüsterte sie mir zu, »blick dich gefälligst ordentlich um, ob hier etwas davon übriggeblieben ist, wovon wir während der Kriegsjahre im fernen Mexiko geschwärmt haben, als uns Prag so gefehlt hat.«
    Ich horchte auf. Natürlich! Egon Erwin Kisch und die Prager Altstadt, es kann ja kaum jemand anderer sein! Hier läßt er mich einfach nicht los. Ich sah mich noch einmal um, aber Erträumten kann man bekanntlich nicht begegnen.
    Beim Weitergehen suchte ich eine Straßentafel, hatte
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