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07 Von fremder Hand

07 Von fremder Hand

Titel: 07 Von fremder Hand
Autoren: Deborah Crombie
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    Die Fantasie ist eine großartige Gabe, eine göttliche Geisteskraft, und es ist möglich, sie solchermaßen zu üben und auszubilden, dass sie nur dasjenige aufnimmt, was wahr ist.
     
    Frederick Bligh Bond, aus: Das Tor der Erinnerung
     
    Die Schatten sickerten langsam in Jack Montforts kleines Büro und tauchten die Ecken in angenehmes Dämmerlicht. In letzter Zeit verspürte er immer eine gewisse Vorfreude auf die Stunden am Ende des Tages, die er für sich allein hatte. Er sagte sich, dass er mehr erledigt bekam, wenn das Telefon nicht läutete und keine Kunden vorbeischauten, aber vielleicht, so dachte er mit leiser Bitterkeit, lag es auch nur daran, dass er herzlich wenig Grund hatte, nach Hause zu gehen.
      Er stand an seinem Fenster, blickte auf die Fußgänger herab, die auf beiden Seiten der Magdalene Street vorüberhasteten, und überlegte beiläufig, wohin sie wohl alle an diesem Mittwochabend so eilig unterwegs waren. Die Tore der Abtei gegenüber waren um fünf Uhr geschlossen worden, und er beobachtete, wie der Wächter die letzten Nachzügler hinausließ. Es war ein wolkenloser Märztag gewesen, jedoch mit einem schneidenden Wind, und Jack konnte sich vorstellen, dass jemand, der sich vom Sonnenschein zu einem Spaziergang um den Fischteich des Abts hatte verleiten lassen, inzwischen bis auf die Knochen durchgefroren sein musste. Nun würden sich die Umrisse der verbliebenen Strebepfeiler der großen Kirche gegen das helle Rosa des östlichen Himmels abzeichnen, eine angemessene Belohnung für diejenigen, die der Kälte getrotzt hatten.
      Er konnte sich glücklich schätzen, die beiden Büroräume im ersten Stock bekommen zu haben, mit Blick auf den Marktplatz und den Eingang zur Abtei. Es war eine erstklassige Lage, und die Auflagen, die mit der Renovierung eines denkmalgeschützten Gebäudes verbunden waren, hatten ihn nicht abgeschreckt. Durch seine Jahre in London hatte er reichlich Erfahrung im kreativen Umgang mit Vorschriften gewonnen, und es war ihm gelungen, die Räumlichkeiten zu seiner Zufriedenheit zu modernisieren, ohne sein Budget zu überschreiten. Er hatte eine Sekretärin eingestellt, die über seinen neuen Empfangsbereich herrschte, und sich an die langwierige Aufgabe gemacht, ein Architekturbüro aufzubauen.
      Und wenn eine kleine Stimme immer noch gelegentlich flüsterte: Wozu das Ganze?, dann tat er sein Bestes, sie zu ignorieren, und machte weiter, so gut er eben konnte, auch wenn ihn die letzten Jahre gelehrt hatten, dass alle Pläne letztlich nur flüchtige Entwürfe waren. Schon als Kind hatte sein Lebensweg für ihn festgestanden: Universitätsabschluss, eine erfolgreiche Laufbahn als Architekt... Ehefrau... Familie. Was er nicht mit auf der Rechnung gehabt hatte, war die Weigerung des Lebens, dabei mitzuspielen. Jetzt waren sie alle nicht mehr da: seine Mutter, sein Vater... Emily. Mit vierzig fand er sich wieder in Glastonbury. Es war ein Schritt, der vor zwanzig Jahren für ihn unvorstellbar gewesen wäre; aber hier war er nun, allein in dem alten Haus seiner Eltern in der Ashwell Lane, bedrängt von Erinnerungen.
      Er krempelte die Hemdsärmel hoch, setzte sich an seinen Schreibtisch und rückte einen leeren Bogen Papier in den Lichtkegel seiner Architektenlampe. Nur dazusitzen und in Selbstmitleid zu schwelgen würde ihm auch nicht weiterhelfen, und schließlich gab es da einen Bauherrn, der für morgen ein Angebot für den Umbau eines Wohnhauses erwartete.
      Wenn er seine Arbeit rasch erledigte, konnte er sich vielleicht sogar auf ein Abendessen mit Winnie freuen.
      Er dachte daran, wie unerwartet Winifred Catesby in sein Leben getreten war, und musste lächeln. Nachdem die wohlmeinenden Freundinnen seiner Mutter einmal entschieden hatten, dass eine angemessene Trauerzeit verstrichen sei, hatte er sich vor arrangierten Rendezvous kaum retten können, und die Willensanstrengung, die es ihn gekostet hatte, mit liebes-hungrigen geschiedenen Frauen Konversation zu machen, hatte er bald als noch deprimierender empfunden als das Alleinsein. Er hatte sich so oft herausgeredet, dass seine Wohltäterinnen ihn endlich zu einem hoffnungslosen Fall erklärt und in Ruhe gelassen hatten.
      Solchermaßen befreit von unwillkommenen Verpflichtungen, war er in der Folgezeit immer häufiger die acht Kilometer bis Wells gefahren, um sich die Wohltat des Abendgottesdienstes in der Kathedrale zu gönnen. Die Nähe zum Chor der Kathedrale war einer der Gründe,
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