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Mr. Lamb

Mr. Lamb

Titel: Mr. Lamb
Autoren: Bonnie Nadzam
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Sagen wir, alles hat irgendwo außerhalb von Chicago angefangen, eines Tages im Spätsommer, in einer Wohnstraße, die als Sackgasse an einer Mauer endete. Es war eine Mauer, die den Blick auf den Freeway verhindern sollte, und für mehrere Meilen in beide Richtungen endeten alle Parallelstraßen zu dieser an derselben Betonmauer. Keine Bäume auf der Wiese, keine Vögel auf den Telefondrähten. Nördliche Raubwürger – weg. Kleine graubäuchige Zaunkönige – weg. Abendkernbeißer – weg. Ulmen und die meisten Eichen und die hohen silbrigen Gräser: Graslilien und Schildfarn und Flammenblumen – alles weg. Ackerstiefmütterchen – weg. Über den offenen Schlünden umgekippter Mülltonnen kreisten schwarze Fliegen.
    Stellen wir uns das Eckhaus aus weißem Backstein und mit einer Seitenwandung aus Aluminium von der Farbe gelben Schlamms vor. Drinnen ein alter Mann in einem Fernsehzimmer mit trüber Beleuchtung, den Fernsehsessel nach hinten gekippt, eine Schachtel mit Hühnerstücken aus der Mikrowelle auf der eingesunkenen Brust. Er war in die gelbe Küche geschlurft, hatte aus reiner Gewohnheit ein vakuumverpacktes Fertiggericht aus dem Tiefkühlschrank geholt, hatte es in der Mikrowelle aufgewärmt und aus reiner Gewohnheit, mit einem säuerlich riechenden Geschirrspültuch umwickelt, ins Fernsehzimmer getragen. Erst als er schon wieder saß und das Hühnchenroch, fiel ihm ein, dass er eigentlich nichts hatte essen wollen. Er wartete, bis die Stücke abgekühlt waren, und aß sie dann mit den Fingern. Er versuchte nicht zu atmen. Immer wieder hielt er den Atem an, bis ein Wille, der nicht ihm gehorchte, mit dem Atmen weitermachte.
    Die Haustür ging auf, der alte Mann schrak zusammen. Ein dünner Speichelfaden glänzte in einem Mundwinkel.
    »Dad.« Die Tür ging zu, David Lamb kam in die Küche und legte seine Schlüssel auf den Tisch. »Himmel, Dad, was für ein Gestank.« Einen Moment blieb er in der Tür zur Küche stehen. Ameisen rannten in einer langen Reihe unter seinem Schuh entlang, wie ein feuchter Riss im schmutzigen Linoleum.
    Der alte Mann blickte auf sein kaltes, gummizähes Essen in der Pappschachtel. David Lamb machte den obersten Knopf an seinem feinen, hellblauen Hemd auf und kam ins Fernsehzimmer. Er nahm die Schachtel von der Brust des alten Mannes und stellte sie auf den Tisch. »Hatte ich letzte Woche nicht jemanden bestellt, der hier saubermachen sollte? Ist sie nicht gekommen?«
    Der alte Mann griff nach der Fernbedienung und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.
    »Schläfst du hier unten, Dad?«
    »Vom Treppensteigen krieg ich ein Ziehen im Arsch.«
    »Du hättest mich anrufen sollen. Wir können das Bett nach unten bringen.«
    »Ich will hier unten kein Bett, verdammt.«
    »Was ist mit dem schmalen Bett?«
    Der alte Mann richtete sich auf und sprach laut mit verschleimter Stimme. »Was ist mit Cathy? Ist sie weg? Bist du gefeuert worden?«
    »Nein.«
    »Ist sie tot?«
    »Nein, Cathy ist nicht tot.«
    Der alte Mann hielt sich einen Moment aufrecht, dann sank er in den Sessel zurück und winkte matt in Lambs Richtung. »Ich sterbe noch beim Fernsehen.«
    »Lass uns ins Kino gehen. Oder wir essen einen Burger bei Cy. Hast du Lust?«
    »Lass mich doch in Ruhe. Du willst gar nicht mit mir ausgehen. Das merke ich doch.«
    »Möchtest du nicht mal was Anständiges essen, Dad? Hast du noch was im Tiefkühlschrank?«
    »Warum bist du hier? Bist du gefeuert worden?«
    »Nein, Dad.«
    »Ist deine Frau auch tot? Was hat sie gemacht – ist sie betrunken Auto gefahren?«
    »Cathy geht es gut. Lass uns was essen gehen.«
    »Du wolltest mir nie was kochen. Das habe ich immer gemerkt.«
    »Ich habe immer für dich gekocht, Dad.«
    »Fünfunddreißig Jahre waren es letzte Woche, seit sie gestorben ist. Du hast nicht an den Tag gedacht.«
    »Hab ich wohl.«
    »Am dritten September.«
    »Ich weiß, Dad.«
    »Fünfunddreißig Jahre.«
    »Ich weiß.«
    »Gar nichts weißt du.«
    David wandte sich ab. Vor dem Fenster blinkte das letzte trübe Tageslicht auf den vorbeifahrenden Autos. »Ihre weiße Bluse von hinten, als sie draußen die Stufen runtergeht, zu ihrem Auto. In der Hand einen kleinen Koffer.«
    »Ana hatte keinen Koffer dabei. Oder wie? Als hätte sie gewusst, was passieren würde. Ihre Einkaufstasche. Vielleichthatte sie eine Einkaufstasche dabei, aber doch keinen Koffer.«
    »In Jeans. Das schwarze Haar, glänzend auf ihrem Rücken. Fährt mit dem Auto weg, das ich ihr
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