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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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ausgebreiteten Handtuch. Daß es blau gewesen war, wußte er.
    Und es schien ihm auch, als hätte er Schreie gehört. Vielleicht war es eine Einbildung, eine spätere, gefälschte Ausschmückung seines Gedächtnisses. Seine Schwester, soviel war sicher, hatte nicht geschrien. Es konnten allenfalls die Schreie der Zuschauer gewesen sein. Doch sie waren eben, ob echt oder unecht, und auf dem gänzlich zufälligen Untergrund blauer Farbe, in seine Erinnerung gebrannt. Auf einem Grashalm hatte eine Libellebalanciert; auf- und ab-, auf- und abwippend. Dann, mit einem ganz leichten Flügelschlag, hatte sie sich von dem Halm gelöst und war davongeflogen. Und die Helligkeit, der Duft und das Bienensummen hatten sich wie ein Vorhang hinter seiner Schwester geschlossen. Jemand hatte ihn aufgehoben und schnell davongetragen, und erst nach mehreren Tagen hatte seine Mutter ihm eine zurechtgemachte, unglaubhafte Version von dem erzählt, was passiert war.

VI
    Die Wahrheit hatte er erst später erfahren; sie war nicht so, daß sie einem Kind beschrieben werden konnte. Es war eines der großen, gelblichen Fahrzeuge der Straßenreinigung gewesen, ausgestattet mit rotierenden Bürsten und einer dumpf brummenden Saugvorrichtung, und es schien – denn genau wußte es niemand –, daß eine der Bürsten das Mädchen ergriffen und an sich gezogen hatte, weich und angenehm kitzelnd (eine Frau, die alles gesehen hatte, behauptete fest, daß es noch gelacht hatte, während es darin verschwand), und dann, als da plötzlich keine Luft mehr war und nur mehr Staub und Lärm und kein Entkommen, nirgendwohin, hatte die Mündung des großen Rohres es gleichgültig eingesogen. Bloß für einige Momente hatte der Motor seine Tonlage verändert, dann war alles wieder normal, das Hindernis überwunden, als wäre nichts geschehen. Erst als brüllende Leute den Wagen zum Stehen gebracht hatten und als der Behälter abgenommen und geöffnet worden war, fand sich darin unter unzähligen gelben Blütenblättern ein verwirrend ruhiges Gesicht an einem Kopf, der nicht mehr Teil eines Körpers war.
    David wußte, wie das ausgesehen hatte. Er wußte es genau. Denn in dieser Gestalt traf er sie bis heute in seinen Träumen. Sie erschien in nienachlassender Deutlichkeit und sprach mit ihm und teilte ihm Dinge mit, die offenbar wichtig waren, die er aber niemals über die Grenze des Aufwachens mitnehmen konnte, in den wachen Teil seines Bewußtseins, in den Tag. So blieb ihm jedesmal nur das Bild ihres Gesichtes und ihres eigenartig schief sitzenden Kopfes und der kreisrunden Linie um ihren Hals; als müßten die Toten ihre beschädigten Körper mitnehmen und sich notdürftig damit arrangieren.
    Er war ein Kind, das auffiel. Dadurch, daß er bei jedem der lauten, konfettibunten Geburtstage, zu denen er eingeladen war, zuviel Kuchen aß und in Kauf nahm (oder vergaß), daß ihm danach die ganze Nacht schlecht sein würde. Dadurch, daß es niemandem gelang, ihm auszureden, daß die Menschen im Fernsehen, ja selbst die Puppen im Kinderprogramm, ihn ansahen, zu ihm, David, sprachen und böse und gefährlich waren. Und auch dadurch, daß er mit vier Jahren aus Bausteinen einen Torbogen mit einer fast einen Meter hohen Wölbung errichtete, der so konstruiert war, daß die Steine sich gegenseitig durch Druck und Gegendruck festhielten. So hatte er, bevor er noch in ganzen Sätzen sprach, das Prinzip des Schlußsteins entdeckt.
    Mittags, nach der Schule, war er allein. Sein Vater mußte arbeiten, und seine Mutter besuchte irgend jemanden, und er hätte sehr gerne Geschwister gehabt, lebendige, solche, die ihn nicht bloß inder Nacht von einem unerreichbaren Ort aus beobachteten. – Er bemerkte, daß Dreiecke in einem Halbkreis immer rechtwinkelig gerieten, wenn ihre Spitze nur die Linie des Bogens berührte. Und daß solche Dreiecke schöner waren als die anderen, vollkommener, aus irgendeinem Grund besser. Er bemerkte, daß Steine immer hinunter fielen, der Erde zu, obwohl das nicht selbstverständlich war; denn was war hinunter eigentlich, außer eben das Wort für die Richtung, in welche die Steine fielen; und manchmal wäre es ihm vernünftiger vorgekommen, hätten sie sich in die andere Richtung bewegt, aufwärts, in die blaue, alles an sich ziehende Helligkeit; wenn man sich bückte und zwischen seinen Beinen hindurchsah, war das, als hinge man über einem Abgrund. Er bemerkte, daß man nur etwa acht Minuten blutete, wenn man sich in den Finger schnitt oder in
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