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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit
Autoren: Daniel Kehlmann
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Sprühregen prasselte gegen Hauswände und Fenster; auf der Straße bückten sich Menschen, senkten die Köpfe, schoben beim Gehen eine Schulter vor oder stellten sich in Hauseingängeund warteten. Auf den Autofenstern schlugen die Scheibenwischer hin und her. Drei kleine Mädchen liefen vorbei, die Münder offen, die Gesichter naß dem Himmel zugekehrt, ein Hund folgte ihnen mit am Körper klebendem Fell. Da hörte der Regen auf. Aber erst nach einigen Minuten klappte ein Schirm zu, dann der nächste, dann fast alle. Der Himmel war überzogen von weißen Schlieren; sie wuchsen, schienen in die Breite zu fließen, und dann, wie durch eine chemische Umwandlung, wurde das Grau zu verschwimmender Helligkeit, leuchtendem Dunst. Vom Asphalt stiegen Schwaden weißer Feuchtigkeit. Ein Hund wälzte sich in einer schrumpfenden Pfütze. Die Wolken rissen auf; und endlich, umrahmt von einem Stück Blau, als bleiche Rundung gespiegelt in allen Pfützen, allen Windschutzscheiben, allen ihr zugewandten Fenstern, war die Sonne da. Der Hund rollte sich aus der Pfütze, zögerte einen Moment, trank einen Schluck des sich verfärbenden Wassers und rannte davon. Eine Glasscherbe am Rand des Bürgersteigs blinkte auf, gekrümmt wie ein hohler Spiegel, Splitter eines zerbrochenen Laternenkopfes.
    David erschrak. Er fror. Für einen langen Moment wußte er nicht, wo er sich befand. Etwas war geschehen. Als wäre ein Riß durch ihn gegangen, als hätte ein Teil von ihm ihn verlassen; und plötzlich spürte er eine Bewegung: Etwas kam auf ihnzu. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Stoß von dreißig beschriebenen Blättern, bekritzelt in einer großen, zittrigen Schrift: leicht schiefe Kolonnen von Zahlen, Skizzen, Kurven, die sich in weiten Bögen über das Papier schlängelten, Diagramme, die keinen Sinn zu haben schienen, beschriftet mit Zeichen, die er hatte erfinden müssen; aber all das war, wenn man es begriff, von leuchtend perfekter Klarheit. Wie spät war es? Die Sonne blendete ihn, brannte in seinen Augen, legte ein Gefühl feuchter Wärme auf seine Stirn.
    David stand auf. Seine Glieder taten weh, seine Beine waren steif, und es fiel ihm schwer, die Arme auszustrecken. Auf dem Nachttisch lag noch immer seine Armbanduhr. Es war fast drei.
    Er schaltete die Kaffeemaschine ein. Im Badezimmerspiegel betrachtete er eine Weile sein Gesicht. Dick und rötlich, mit einer breiten Nase und deutlich abstehenden Ohren; er hatte dieses Gesicht noch nie gerne gesehen. Er rasierte und wusch sich, ging in die Küche, trank drei Tassen Kaffee und spürte beunruhigt, wie sein Herz schneller pochte.
    Er ging zu seinem Schreibtisch zurück. Im Bücherregal darüber standen aufgereiht die Werke von Newton, Boltzmann, Zermelo, Mach, Einstein, Prigogine, Valentinov. Daneben zehn Jahrgänge der Facetten der Physik in fünf dicken Sammelordnern, die er auswendig kannte. Tatsächlichauswendig: er wußte jedes Wort, das darin stand. Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.
    »Ja?« sagte Marcels Stimme. »Was?«
    »Ich habe es geschafft. Ich habe die Lösung.«
    »David, das paßt mir gerade nicht gut. Ich bin beim Weggehen ...«
    »Ich habe es gelöst.«
    Marcel schwieg. Dann hustete er. »Wirklich?«
    »Ja.«
    »Gratuliere«, sagte Marcel. »Treffen wir uns morgen? Um zehn?«
    David antwortete nicht.
    »Schön«, sagte Marcel, »dann bis morgen! Du solltest das feiern. Na ja, das machen wir morgen. Gratuliere!«
    Es klickte, Marcel hatte aufgelegt.
    David dachte einen Moment nach, dann wählte er eine andere Nummer.
    Aber sie hob nicht ab, es war nur ihr Anrufbeantworter. Die Maschine pfiff, rauschte, hörte ihm zu.
    »Das wirst du vielleicht nicht glauben«, sagte er langsam. »Aber ich bin gestern ... heute durch Zufall darauf gekommen. Ich habe es geschafft. Das wird alles ändern. Ich dachte, daß es dich interessiert. Vielleicht können wir uns ... treffen.« Er zögerte. »Ich gehe jetzt spazieren. Entschuldige, ich bin noch etwas ...« Er legte auf.
    Hastig zog er sich an: Strümpfe, Hose, einen Pullover. Auf einmal hatte er Probleme mit den Schuhen: die Bänder widersetzten sich, es gelang ihm nicht, Schleifen zu binden. Im Treppenhaus grüßte ihn jemand, er antwortete nicht. Er schob die Hände in die Hosentaschen und trat auf die Straße.
    Er blieb stehen und legte den Kopf in den Nakken. Die Sonne: rund und feurig und verschwimmend, eine warme Berührung auf seinem Gesicht; eine orange gefärbte Dunkelheit, wenn er die Augen
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