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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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Schlangen, die er hütet. Das werde ich nicht zulassen. Wie heißt es doch? Gift bekämpft man mit Gegengift.«
    Nur drei Tage später wurde ich von lautem Stimmengewirr geweckt. Als ich ins Freie trat, standen die Skarabäen vor dem großen Tor. Sie redeten laut und aufgeregt miteinander, als hätte sich etwas Unerwartetes ereignet. Ich vernahm zunächst nur Wortfetzen: »Erwürgt. Sie hat ihm alle Knochen gebrochen. Mit einem Messer mussten wir sie ihm vom Leib schneiden. Die Augen quollen ihm schier aus dem Kopf. Grauenhaft! Einfach grauenhaft!«
    Rufus war von einer seiner Riesenschlangen erwürgt worden. Es war ein Unfall. Aber ich ahnte, dass Karras daran nicht unbeteiligt war.
    »Wie hast du es angestellt?«
    »Was?«
    »Wie hast du ihn aus dem Weg geräumt?«
    »Ich? Lydia hat ihn erledigt.«
    »Wer ist Lydia?«
    »Seine Lieblingsschlange, eine Boa, so dick wie ein Oberschenkel und gut zwei Doppelschritte lang.«
    »Und wie konntest du sie dazu bewegen, dir diesen Gefallen zu tun?«
    »Willst du das wirklich wissen?«
    Ich nickte, und er erklärte mir: »Schlangen sind wie alle Reptilien wechselwarme Kreaturen. Ihre Beweglichkeit und die damit verbundene Angriffslust hängen von der Körpertemperatur ab. In dem höhlenartigen Labor, in dem er seine Schlangen hält, ist es kühl. Die Tiere dort sind so apathisch, dass sie alles mit sich geschehen lassen.
    Korallinplatten, wie wir sie während der kalten Jahreszeit in die Wohnung holen, halten die Wärme für viele Stunden. Das Problem war nur: Wie lassen die sich in ein verschlossenes Terrarium einschmuggeln? Ich habe es geschafft, so wie du es fertiggebracht hast, unser Kind unter die Neugeborenen zu schmuggeln. In beiden Fällen ging es um Tod und Leben, denn glaube mir, wenn Rufus an die Macht gekommen wäre, hätte das für uns beide ein böses Ende genommen. Eine Frau unter Skarabäen war für ihn undenkbar, und mich hat er gehasst, weil ich ihm Jakaranda streitig gemacht habe, den er entdeckt und mitgebracht hat. Er war es auch, der veranlasste, dass ich auf dem Meer ausgesetzt wurde. Er war arglistig und gefährlich wie seine Schlangen, die er mit Ratten fütterte. Am Ende starb auch er wie eine Ratte.«

40. KAPITEL
    I n dieser Nacht – es war eine finstere Neumondnacht – rief Estragon noch einmal die Skarabäen zu sich, um sich von jedem einzeln zu verabschieden. Als ich zu ihm gebracht wurde, kündigte das Morgenrot den neuen Tag an. Estragon stand am Fenster, das Gesicht dem Meer zugewandt. Ich stellte mich zu ihm und sah, wie die Sonne aus dem Ozean auftauchte, langsam und unaufhaltsam wie der Kopf eines Kindes bei seinem Eintritt in die Welt. Estragon muss wohl ähnlich empfunden haben, denn er sagte: »Es gab Völker, die glaubten, die Sonne würde jeden Tag aufs Neue geboren werden, so wie auch wir jeden Tag das Licht der Welt neu erblicken.
    Die gute alte Sonne, sie schenkt uns nicht nur Licht und Wärme. Sie ernährt uns auch, denn wir essen Pflanzen, die Sonnenlicht in körpereigene Materie verwandeln. Selbst die Raubtiere ernähren sich von der Sonne, indem sie Pflanzenfresser verzehren.
    Wir alle sind Sonnenlichtesser. Und auch hier bilden die Mikroorganismen die Grundlage allen Lebens. Mit Hilfe des Sonnenlichtes wachsen winzige Algen heran, die von kleinen Krebsen, Muschellarven und Fischen gefressen werden, und die dienen dann den größeren Tieren als Nahrung. Am Ende ernährt der kleine Gott den ganzen Ozean, und dem verdankt die Erde ihre Atmosphäre mit allem, was darin lebt. Alles steht miteinander in lebendiger Wechselbeziehung. Der Schöpfer von all dem Großen aber ist klein, sehr klein.«
    Die lange Rede hatte ihn angestrengt. Er ließ sich in einem Armstuhl nieder und meinte lächelnd: »Man muss aufpassen, dass man nicht länger lebt, als man dazu fähig ist.«
    »Der lange Schlaf wird dir guttun«, sagte ich. »Gesund und verjüngt wirst du wieder aufwachen.«
    »Ja, falls ich wieder aufwache. Als man Sokrates fragte, ob er an die Auferstehung glaube, soll er gesagt haben: Glauben ist nicht das richtige Wort für eine schöne Vorstellung.«
    »Gibt es etwas, an das du glaubst?«, fragte ich ihn.
    Er wandte mir sein faltiges Gesicht zu und sagte: »Ich bin ein Teil vom großen Grenzenlosen. Es stört mich nicht, dass die ›letzten Fragen‹ ungelöst bleiben, obwohl wir nicht aufhören werden, sie zu stellen. Mich beruhigt der Gedanke, dass wir nicht alles erkennen können. Ich stehe staunend und ehrfürchtig vor dem
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