Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
Vom Netzwerk:
untrennbar miteinander verbunden. Ersteres wurde zu einer paradiesischen Verheißung, Letzteres zu einer menschen-unwürdigen Viecherei. Nichts erfüllt die Blühenden so sehr mit Ekel wie das Gebären der Urmenschen im Menschenzoo.«
    »Gebären ist die natürlichste Sache der Welt«, widersprach ich.
    »Gewiss«, sagte Estragon. »So natürlich wie das Sterben. Auch unser Verhältnis zum Tod ist nicht aufrichtig, kann nicht aufrichtig sein, denn seine Verdrängung ist lebensnotwendig, um nicht vor Todesangst gelähmt zu sein. Gebären und Sterben – welch unaussprechliches Tabu!«
    »Ein Lügengebäude, erlogen und erfunden.«
    »Erdachtes ist bisweilen wirklicher als die Wahrheit.«
    »Lügen, Lügen, lauter Lügen!«
    »Bisweilen ist die Wahrheit so kostbar, dass sie einen Panzer aus Lügen benötigt«, erklärte mir der Alte. »Wir geben den Menschen das Höchste, das man ihnen geben kann: die Vision der reinen Vernunft, gepaart mit lebenslangem sorgenfreiem Gesundsein. Was wiegt daneben die Wahrheit? Wir überbewerten die Wahrheit. Gibt es eine größere Enttäuschung, als wenn eine Idee zur Wahrheit verkommt?«
    »Und warum weiß ich nichts von alledem?«
    »Der Skarabäen Wissen ist Wenigen gemeinsam«, sagte Estragon, und er fügte hinzu: »Jetzt weißt du es. Jetzt gehörst du zu dem Kreis, der die Flamme umschritt.«
    »Weiß die Magna Mater davon?«
    »Wie kann es anders sein?«
    »Hat sie mich deshalb zu euch geschickt?«
    Meine Frage blieb unbeantwortet. Stattdessen sagte der Alte: »Du bist die, auf die wir gewartet haben.«
    Die Antwort verwirrte mich, wie alles, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte. Tausend Fragen beschäftigten mich: »Die Mütter aus dem Turm: Was wird aus ihnen?«
    »Sie sterben gebärend wie die Lachse, die ihr Leben mit der Eiablage beenden. Die Schmerzen der Geburt bleiben ihnen erspart. Nicht alle überleben die Schwangerschaft. Du hast es ja erlebt.«
    »Ich? Wieso habe ich das erlebt?«
    »Du erinnerst dich an das Gespräch, das du mit angehört hast, unten am Strand. Einer von uns fragte: ›Du meinst, sie muss sterben?‹ Und der Angesprochene antwortete: ›Ja, sie wird sterben.‹ Das galt nicht dir, sondern einer Schwangeren im Fledermausturm. Dir hat niemand nach dem Leben getrachtet. Denn du bist eine von uns.«
    »Aber die toten Frauen! Was macht ihr mit den Toten?«
    »Ihre Körper sind weder verehrungswürdig noch Abfall. Sie sind der Samen, aus dem neues Leben entkeimt. Es gilt das Gebot: Lasst die Toten in Ruhe, auch die, die ihr einmal sein werdet.«

38. KAPITEL
    D er Orden eine Bande von Falschspielern. Das Geheimnis der Geheimnisse ein Ammenmärchen. Wir belügen die uns anvertrauten Menschen.
    »Lehren wir nicht, du darfst nicht lügen? Hat die Wahrheit, auf die wir im Vergleich mit dem Schwindel der alten Religionen so stolz sind, ihren Wert verloren? Habt ihr sie abgeschafft?«
    »Nein, keinesfalls«, widersprach Estragon. »Es ist unerlässlich, dass wir die Blühenden zur Wahrheit erziehen. Denn nur, wenn wir ihnen einprägen, lügen ist böse, bekommen sie Gewissensbisse, wenn sie die Unwahrheit sagen. Die Blühenden folgen uns wie die Küken der Henne. Sie vertrauen blindlings darauf, nicht betrogen zu werden, was natürlich nicht stimmt, denn wir belügen sie ständig, müssen sie belügen zu ihrem eigenen Schutz.«
    Als ich verständnislos den Kopf schüttelte, sagte er: »Eine Lüge ist verwerflich, wenn sie einem Menschen Schmerz zufügt, aber sie wird zur Pflicht, wenn sie Schaden abwendet.«
    Ich wollte das so nicht hinnehmen und hielt ihm entgegen: »Aus Lügen, die wir glauben, werden Wahrheiten, mit denen wir leben, so haben wir die Gottesanbeter verhöhnt. Was unterscheidet uns dann noch von den Lügen ihrer Religion?«
    »Religionen lügen nicht«, sagte Estragon, »sie erfinden sich immer wieder die Wahrheit, die sie gerade brauchen. Wir müssen unseren Gott nicht erfinden, wir haben ihn leibhaftig in uns und um uns herum. Er ist körperlich anwesend, so wahrhaftig wie meine Hand.« Und damit streckte er mir seine faltigen Finger entgegen.
    Ich stieß sie brüsk zurück: »Das ist nicht mein Orden, für den ich angetreten bin!« Ich sprach mit erregter Stimme, schrie ihn förmlich an.
    Estragon hob beschwichtigend die Hände. »Wie soll ich es dir erklären. Das Leben besteht aus der Menschheit, der Tierheit und der Pflanzenheit mit fließenden Übergängen. Das Unglück begann, als die Menschen aus diesem Familienverband ausscherten,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher