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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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wäre.
    Jetzt sind beide Schiffe draußen auf dem offenen Meer, pflügen durch die Wellen, sie brauchen keinen Wind, der sie antreibt. Welche Freiheit die Besucher doch genießen, sie kommen und gehen, gleichgültig dem gegenüber, was sie zurücklassen, zerbrochen oder zerstört.
    Der Hafen wird in der Ferne immer kleiner, und Pinkerton wirft einen letzten Blick zurück auf das Land, fängt den Moment ein, der nur einen Herzschlag dauert, ein Schatten zwischen Himmel und Erde, wenn der Horizont verschwimmt; ein Moment, den man erlebt, wenn man ankommt und wenn man wegfährt, auf den er sehnsüchtig gewartet hatte an jenem Tag vor drei Jahren, als er das erste Mal in den Hafen von Nagasaki eingelaufen war.

Kapitel 1
    ES WAR EINE stürmische Überfahrt gewesen, begleitet von rauem Seegang und Unwettern. Als am Horizont ein verschwommener Fleck Land in Sicht gekommen war, hatte er ein stilles Dankgebet gesprochen. Wegen eines Sturmschadens am Rumpf ihres Schiffes kamen sie nur langsam voran und hatten einen ganzen Tag gebraucht, um die Japanische See zu überqueren. Aus der Nähe war zunächst keine Lücke zwischen den Hügeln auszumachen, bis sie dann die schmale Einfahrt zu einer runden Bucht erreichten, die in eine zweite Bucht führte. Von der Karte wusste Pinkerton, dass die Stadt an dieser inneren Bucht mit dem Hafen lag. Er sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen, freute sich auf ein bequemes Bett und gutes Essen und, was noch wichtiger war, ein bisschen Vergnügen.
    Sie glitten durch die Meerenge, vorbei an den Leuchttürmen, die steuerbord und backbord Wache standen und ihnen den Weg wiesen, vorbei an Hügeln, die sich dunkel gegen den nächtlichen Himmel abhoben. Um sie herum schaukelten die Lichter kleiner Boote auf den Wellen, und dann lag auf einmal in einem Halbkreis die Stadt vor ihnen. Sie erinnerte ihn an das antike griechische Amphitheater, das in einem seiner alten Schulbücher abgebildet gewesen war; ihre Lichter funkelten auf den Hügeln wie herabgefallene Sterne und spiegelten sich im schwarzen Wasser. Nagasaki. Mit etwas Glück würde er hier finden, was er brauchte: eine anständige Mahlzeit und eine nicht ganz so anständige Frau. Er würde Eddie um Rat fragen, Eddie hatte Erfahrung. Sie waren der gleiche Jahrgang, beide vor Kurzem dreiundzwanzig geworden, aber Eddie wirkte um einiges älter, und er kannte sich hier aus. Pinkerton hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, dass Eddie ihm weiterhelfen konnte.
    Am nächsten Morgen ließen sie sich in aller Frühe von einem sampan, einem flachen, breiten Plankenboot, an Land bringen. Die Hügel um den Hafen ragten steil in die Höhe, an einigen Stellen zu steil für Häuser. Hier und da hatte man Terrassen angelegt für Gärten, die kaum größer waren als ein Handtuch und in denen sich winzige, schmale Gestalten tief über irgendwelches Grünzeug beugten, das sie dort angepflanzt hatten. Wenn sie sich mit ihren flachen Strohhüten aufrichteten, sah es aus, als würden zwischen dem Grün Pilze in die Höhe schießen.
    Am Ufer angelangt, drängten sich Pinkerton und Eddie an den Rikschafahrern vorbei, die sie am Ärmel zupften und ihre Dienste anpriesen. Ihnen das größte Vergnügen versprachen, wenn sie mit ihnen führen.
    Eddie schob sie zur Seite, ebenso wie die unterwürfig lächelnden Männer in Schlafanzügen, die ihnen anboten, sie zu führen – »gleich hier, ganz schnell« –, in irgendein Freudenhaus, vermutete Pinkerton.
    »Die brauchen wir nicht«, versicherte ihm Eddie, »die Puffs hier werden mit einer Konzession der Regierung betrieben. Wenn wir was Sauberes und Ordentliches suchen, finden wir das im Stadtzentrum.«
    »Und die Leute hier haben nichts dagegen?«
    »Nein. Die sind nicht wie wir, Ben. Sie sind nicht in dem Sinn unmoralisch, sie kennen bloß keine Moral.«
    Die beiden Männer bahnten sich einen Weg durch die Menge und gingen zum Marktviertel, einem Labyrinth aus unzähligen engen Gassen mit kleinen Läden. Als sie um eine Ecke bogen, überfiel sie unvermittelt der Geruch von Meeresfrüchten und Fisch, ein so beißender Gestank, dass Pinkerton sich eine Hand vor die Nase hielt und versuchte, durch den Mund zu atmen. In dieser Gasse roch es schlimmer als in einer Jauchegrube. Es drehte ihm beinahe den Magen um, und er dachte sehnsüchtig daran, wie bei ihm zu Hause der Fisch roch: gegrillter Roter Schnapper, Blaukrabben, Muschelsuppe …
    Es war jedoch nicht nur der Geruch von Fisch, der wie ein giftiges Gas in
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