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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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herumwirbeln ließ. In dem spiegelnden Lack schien er sich auf der Spitze eines zweiten Kreisels zu drehen.
    Nancy musterte den Jungen: Das steife Stirnband verdeckte einen Teil der blonden Locken. Sie fand, dass er in dem reich bestickten Kimono sehr japanisch aussah.
    »Was für ein hübsches … Kleidungsstück«, sagte sie förmlich. Und als es daraufhin still blieb, fügte sie hinzu: »So farbenprächtig.«
    »Ein solches Gewand wird innerhalb einer Familie für gewöhnlich vom Vater auf den Sohn vererbt«, erwiderte Cho-Cho. »Man nennt dieses Muster takarabune , Schatzschiff.« Ihre Stimme klang ruhig und bedächtig. »Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie auf dem Schiff zehn kostbare Gegenstände, die für eine glückliche Ehe stehen.«
    Erneut fühlte Nancy sich ausgeschlossen. Wollte ihr diese Frau etwa zu verstehen geben, dass sie mit Ben eine glückliche Ehe geführt hatte? Sie spürte Ärger in sich aufsteigen, ihre Miene blieb jedoch ebenso ausdruckslos wie das maskenhafte Gesicht von Cho-Cho.
    Sie legte Pinkerton eine Hand auf die Schulter. »Ben, lässt du uns bitte kurz allein, ich würde gern unter vier Augen mit der Dame sprechen.«
    Während Pinkerton noch zögerte, traf Cho-Cho die Entscheidung. Sie bewegte sich kaum merklich, neigte leicht den Kopf, und er erhob sich. Er schlüpfte in seine Schuhe und ging mit dem Kind hinaus in den Garten. Gemeinsam betrachteten sie die Pflanzen, und Joey nannte ihm ihre Namen, zuerst auf Japanisch, dann auf Englisch, das seine Mutter ihm beigebracht hatte.
    Der Mann und der Junge sahen zu, wie eine Schnecke vor ihnen über die feuchte Erde kroch, kauerten sich nieder, um zu verfolgen, wie sich das Geschöpf mit bald hierhin, bald dorthin tastenden Fühlern langsam, aber stetig vorwärtsbewegte.
    Pinkerton streckte die Hand aus, entfernte sanft das Stirnband vom Kopf des Jungen und fuhr ihm durch die Haare. Durch die dunkle Türöffnung vernahm er das Murmeln von Nancys Stimme. Stille. Cho-Chos Antwort, kaum zu hören. Dann wieder Nancy. Längere Stille. Erneut Nancy, ein nicht abreißender Strom gemurmelter Worte. Während sein Vater zur Tür sah, nahm Joey die Schnecke, legte den Kopf in den Nacken und machte Anstalten, das Schneckenhaus mit dem sich windenden Körper in den Mund zu stecken. Entsetzt schlug Pinkerton ihm das Tier aus der Hand. Joey zuckte zusammen und zog die Mundwinkel nach unten.
    »Man isst keine lebenden Schnecken, Joey!«
    Noch während er sprach, fragte sich Pinkerton mit einem Gefühl von Ekel, ob man das hier vielleicht doch tat. Die Menschen hier aßen Fische, deren Herz noch schlug, und Krabben, die einem praktisch vom Teller sprangen.
    Die Schnecke war inzwischen weitergekrochen, eine glänzende Spur hinter sich herziehend. Pinkerton zermarterte sich den Kopf nach ein paar munteren Worten; er lächelte den Jungen an, aber es wollte ihm einfach nichts einfallen. Wie lange würden die beiden Frauen denn noch miteinander reden?
    Der Junge fing an, sich zu langweilen, zog an Pinkertons Ärmel und quengelte, er habe Hunger. Endlich erschien Nancy in der Tür und eilte auf sie zu.
    »Gehen wir.«
    Pinkerton stand auf, klopfte seine Hose ab und warf einen fragenden Blick zum Haus.
    »Schon in Ordnung«, sagte Nancy scharf. »Es ist alles geregelt.«
    »Geregelt? Was meinst du damit? Was ist los?«
    Sie fasste den Jungen bei der Hand und kauerte sich neben ihn. Übertrieben langsam und deutlich sagte sie: »Joey, du kommst jetzt mit uns.«
    »Du musst nicht so langsam sprechen«, sagte Pinkerton, »er versteht dich auch so sehr gut …«
    Sie beugte sich näher zu dem Jungen. »Du gehst jetzt mit deinem Vater auf eine Reise.« Pinkerton hielt Ausschau nach Cho-Cho, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Nancy erhob sich, sie schien alles im Griff zu haben.
    »Bist du sicher, dass es in Ordnung ist?«
    Ein entschlossenes Nicken. Sie fassten den Jungen jeder bei einer Hand, traten aus dem Garten und gingen langsam mit ihm den Hügel hinunter, bis er sich mit einem Aufschrei von ihnen losriss. » Komo! « Er rannte zurück zum Haus.
    »Joey!«, rief Nancy. »Warte!«
    »Er hat seinen Kreisel vergessen«, sagte Pinkerton.
    Die kleine Gestalt verschwand durch die Tür. Einen Moment später drang aus dem Haus lautes Heulen zu ihnen.
    Über das Geschrei hinweg rief Nancy: »Ich kümmere mich darum«, ließ Pinkerton auf der Straße stehen und lief ins Haus. Kurz darauf tauchte sie mit dem Jungen in den Armen wieder auf. Er schluchzte und wand
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