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Madame Butterflys Schatten

Madame Butterflys Schatten

Titel: Madame Butterflys Schatten
Autoren: Lee Langley
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der Luft hing. Die ganze Stadt sonderte üble Gerüche ab. Am Straßenrand liefen offene Abwasserrinnen entlang, die in breitere Kanäle mündeten und einen bestialischen Gestank verbreiteten. Dessen ungeachtet bewegten sich die Einheimischen in ihren Holzsandalen flink durch das Gedränge, selbst die Frauen mit Säuglingen auf dem Rücken, und wichen geschickt den rutschigen Rändern der Abwasserrinnen, Rikschas, Ochsenkarren, Pferdewagen und Fahrrädern aus. Die beiden Männer in ihren weißen Marineuniformen gingen vorsichtig weiter. Pinkertons Laune sank mit jedem Schritt: Was konnte man hier schon für ein Vergnügen erwarten?
    »Eddie!« Seine Stimme klang verzweifelt.
    Bei dem Höllenlärm ringsum musste er schreien, damit Eddie ihn hörte. Er brüllte ihm ins Ohr, wo denn die Teegärten und die hübschen Mädchen zu finden seien … Aber im Grunde überlagerte der Gestank jeden Gedanken an ein paar angenehme Stunden.
    Eddie, ein erfahrener Mann, verscheuchte seine Zweifel mit einem Lachen, als sie endlich in ein ruhigeres Viertel kamen und wieder normal miteinander reden konnten. Sie hätten jede Menge Zeit, sich hier einzurichten, während das Schiff repariert wurde. Sie könnten sich ein Haus in einem netten Viertel suchen und dazu ein nettes Mädchen, eine gehorsame, saubere japanische Ehefrau, die ihnen der örtliche Heiratsvermittler beschaffen würde. »Sie gehört dir, so lange du willst.«

Kapitel 2
    VOM FENSTER DES kleinen Hauses auf dem Hügel aus sah das Mädchen die ausländischen Schiffe wie fette, träge Schwäne auf dem Wasser dümpeln. Im Halbrund des Hafenbeckens waren Fischerboote am Kai vertäut, und davor flickten die Fischer ihre Netze. Die großen Schiffe lagen weiter draußen vor Anker, zwischen ihnen und dem Ufer fuhren kleine, mit Seeleuten und Waren beladene Boote hin und her. Vor nicht allzu langer Zeit war Cho-Cho mit ihrem Vater am Ufer entlanggegangen, hatte den Männern bei der Arbeit zugesehen und ihm aufmerksam zugehört, wenn er ihr von der Kunst des Fischfangs erzählte, wie man Fische köderte und fing, schuppte und ausnahm. Das war seine Art, ihr etwas beizubringen; er gab ihr Gedanken ein wie Samen, die in ihr keimen sollten, er zeigte ihr Dinge, die zu kennen nützlich für sie sein könnte. Doch jetzt wartete sie ängstlich auf das Unbekannte, und es gab keinen Vater mehr, der es ihr hätte erklären können.
    Das Nötigste war ihr mitgeteilt worden, über vieles hatte man sie jedoch im Ungewissen gelassen, und sie hatte keine Erfahrung, die ihr hätte weiterhelfen können. Ein Mann würde zu ihr kommen und eine Zeremonie stattfinden. Und dann wäre sie seine Ehefrau. Bis es so weit war, widmete sie sich den Vorbereitungen, beschäftigte sich mit all den Dingen, die dazugehörten: Kleid, Kamm, Sandalen, Schärpe.
    Ein Hochzeitskimono musste aus schwerer weißer Seide sein, shiromuku , das Weiß stand für Reinheit, und die Seide war so gewebt, dass sie wie shogetsu , Kirschblüten, schimmerte. Alles, was sie am Körper trug, musste genau passen, die zeremonielle Perücke, glatt wie Lack, und darüber die Haube, die die Hörner der Eifersucht und des Eigennutzes verbergen sollte. Eifersucht war ihr fremd, aber vielleicht hatte sie sich ja unwissentlich des Eigennutzes schuldig gemacht? Die Haube würde ihr Kraft geben, so wie die kleine Tasche, der Spiegel, der Fächer und das kaiken , der zierliche Dolch in dem mit Quasten verzierten Futteral. Sie fragte sich, warum eine Braut einen Dolch bei sich trug. Vielleicht als Talisman zum Schutz vor Unheil, und wenn eine Braut entehrt wurde, dann nahm sie sich mit einem kaiken , der traditionellen Waffe der Frauen, das Leben.
    Sie betrachtete die Blüten vor dem Fenster und vernahm Vogelgezwitscher. Würde sie eines Tages lernen, die Stimmen neuer, fremder Vögel zu unterscheiden? Und was für Blumen würde sie sehen, würde eine andere Sonne auf das Grün herunterscheinen, falls sie das Glück hatte, nach Amerika mitgenommen zu werden? Wie sah ein amerikanischer Garten aus? Sicher ohne Moos, Schiefer und Wasser, ohne Steine, die in vollkommener Harmonie auf sorgfältig gerechtem Kies verteilt waren.
    Sie stellte sich leuchtend rote Blumen vor und Bäume, die in einen strahlend blauen Himmel wuchsen, überragt von Häusern mit glänzenden Fenstern – die Illustrierten, die Besucher von ihren Reisen mitgebracht hatten, waren voller bunter Bilder gewesen: Eisdielen und Hotdog-Stände, die kurzen Kleider der Frauen, ihre kecken
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