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Gegen jede Regel

Gegen jede Regel

Titel: Gegen jede Regel
Autoren: Sebastian Stammsen
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Montag

    Die Leiche lag mitten im Wohnzimmer. Auf den ersten Blick sah
es so aus, als schliefe der Junge bloß, aber Schlafende hatten nur selten eine
blutige Wunde im Rücken. Selbst wenn sie so exzentrisch waren, ihr Nickerchen
auf dem Parkett zu halten.

    Meine Kollegen von der Spurensicherung waren mit dem Raum
schnell fertig geworden. Abgesehen von einem diskreten Rinnsal aus Blut, das
von der Leiche wegführte, war es einer der saubersten Tatorte, die ich je
gesehen hatte. Das meiste Blut war wohl von den schwarzen Kleidern des Jungen
und dem Perserteppich aufgesogen worden. Wir schauten zu, wie der
Gerichtsmediziner die Leiche untersuchte.

    Â»Ich glaube, es ist eine Stichwunde«, sagte Karl.

    Â»Du glaubst?«, fragte Nina.

    Â»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Karl. »Entweder es
war eine außergewöhnliche Waffe oder der Täter hat die Klinge in der Wunde
mehrfach umgedreht.«

    Kriminalkommissarin Nina Gerling war meine Partnerin, Dr.
Karl Konermann der diensthabende Gerichtsmediziner.

    Â»Das klingt nicht sehr nett«, sagte ich. Ich bin Kriminalkommissar
Markus Wegener. Weder Nina noch Karl beachteten meinen Kommentar.

    Â»Ziemlich tief«, meinte Karl, während er die Ränder der
Wunde vorsichtig betastete. Ich fragte mich, wie er auf diese Weise überhaupt
eine Aussage über die Wunde machen konnte, aber wahrscheinlich gehörte das zu
den Geheimnissen seines Berufes, in die Außenstehende nie einen Einblick
erhalten würden.

    Â»Daran ist er gestorben«, sagte Nina. Sie hatte wahrscheinlich
recht.

    Ich brachte meinen Lieblingsspruch aus dem Detektivspiel Cluedo: »Ich würde sagen, Oberst von Gatow
mit dem Dolch in der Bibliothek. Ich meine, im Wohnzimmer.«

    Karl und Nina sahen mich kurz an, reagierten aber sonst
nicht. Vielleicht hatte ich diesen Witz schon einmal an einem anderen Tatort
gemacht.

    Karl drehte die Leiche behutsam auf den Rücken und der
Tote wurde zu einem Menschen mit Gesicht. Es war ein Junge mit schmalem
Körperbau, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt, der sich irgendwo auf
dem Weg vom Kind zum Erwachsenen befand. Bartflaum spross auf Oberlippe und am
Kinn. Seine schwarzen Haare reichten ihm bis auf die Schultern und ich
vermutete, dass er auch lebendig ziemlich blass gewesen war.

    Â»Wann ist er gestorben?«, fragte ich.

    Karl fuhr damit fort, den Jungen zu untersuchen. »Vor
zehn bis zwölf Stunden«, antwortete er. »Heute Nachmittag kann ich den
Todeszeitpunkt auf eine halbe Stunde genau eingrenzen.«

    Mir wurde flau im Magen, als ich an den Besuch in der
Gerichtsmedizin dachte, aber daran führte kein Weg vorbei. Ich sah auf die Uhr.
Genau halb zwölf. Der Junge war also irgendwann zwischen 23:30 Uhr am Sonntagabend
und 1:30 Uhr heute Morgen getötet worden.

    Nina und ich schauten uns an, dann wandten wir uns
Richtung Flur und überließen Karl seiner Arbeit. Ohne uns abzusprechen, gingen
wir zur Haustür. Zwar arbeiteten wir erst seit elf Monaten zusammen, waren aber
von Anfang an ein gutes Team gewesen.

    An der Tür stießen wir auf einen weiteren Kollegen von
der Spurensicherung. »Gibt es Einbruchspuren?«, fragte Nina.

    Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich habe Fingerabdrücke
von der Tür, vom Schloss und von der Klingel genommen.«

    Â»Wie sieht es mit den Fenstern aus?«, hakte ich nach.

    Er schüttelte wieder den Kopf. »Im ganzen Haus keinerlei Spuren
für einen Einbruch.«

    Â»Danke«, sagte Nina und wir kehrten ins Wohnzimmer zurück.
Karl war mit seiner Untersuchung fertig.

    Ich sah dem Jungen ins Gesicht und versuchte mir vorzustellen,
wie er vor zwölf Stunden noch gewesen sein mochte. Ein blasser, schüchterner
Junge, ein Einzelgänger, der gerne für sich blieb. Lange Haare, die ein wenig
mehr Pflege hätten vertragen können. Schwarze Kleidung, wie auch im Moment
seines Todes mit dem bunten Motiv einer Heavy-Metal-Band auf dem T-Shirt. Ein
Junge, der lieber an seinem Computer saß, anstatt sich mit Freunden zu treffen,
weil er keine Freunde hatte. Das waren Vorurteile; aber einer der Gründe, warum
wir uns auch bei der Polizei von Klischees leiten ließen, war, dass sie
meistens funktionierten.

    Das Gesicht des Jungen verschwand hinter dem Reißverschluss
und der Sack wurde auf die Bahre gehoben. »Wir sehen uns heute Nachmittag«, verabschiedete
sich Karl und geleitete seine neue Leiche
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