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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 15 Der Zauberer und das Mädchen
Autoren: Martin Clauß
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    März 1897
    Samuel musste auf halbem Weg stehen bleiben und durchatmen. Vor seinen Augen waberten schwarze Punkte, er beugte sich vor und stützte sich mit den Händen auf die ausgetretenen Holzstufen. Ein Geländer gab es nicht. Die steile Treppe schien nach hinten zu kippen und ihn abwerfen zu wollen wie eine überhängende Felswand einen allzu kühnen Kletterer.
    G-tt, es war doch nur eine Treppe!
    Für einige Sekunden presste er sich eng gegen die Stufen. Schloss die Augen, versuchte die Panik zu unterdrücken. In seinen Ohren sirrte es, sein Herz raste, Schweißtropfen rannen kalt und klebrig an seinem Hals hinab.
    Noch nie war seine Höhenangst so mächtig gewesen wie in den letzten Wochen. Das Durcheinander in seinem Leben spülte die absurde Furcht an die Oberfläche. Immer häufiger, immer unerbittlicher schlug sie zu. Hatte er sie früher nur in enormen Höhen empfunden, meldete sie sich nun bereits, wenn er auf einen Schemel stieg, um ein Buch aus dem Regal zu nehmen.
    Wo würde das noch enden? Würde er eines Tages Angst haben müssen, aufrecht zu stehen?
    Der Tod seines Vaters hätte ihn beinahe umgebracht.
    Samuel drohte in dem Sturm aus Reichtum und Verpflichtung unterzugehen, den der plötzliche Abgang seines alten Herrn entfacht hatte. Als einziges Kind war er der alleinige Erbe des Rosenberg-Vermögens, einer beachtlichen, schwer zu überblickenden Mischung aus Immobilien und Wertpapieren. Dazu kam die Textilfabrik, die mal florierte, mal kriselte, ein unbeständiges, launisches Unternehmen, Quelle des Reichtums und Quelle der Sorgen. Der Reichtum war erdrückend, die Sorgen bohrend. Samuels Leben war zu einer Folterkammer geworden, in der man Daumenschrauben und Eiserne Jungfrau simultan einsetzte. Er wurde gleichzeitig zerquetscht und durchbohrt.
    Er war ein junger Mann. Gerade einmal neunzehn Jahre alt. Auch sein Vater war mit vierzig Jahren noch nicht alt gewesen, als er starb. Samuel hatte sich fest darauf eingestellt, dass Meir Rosenberg die Finanzgeschäfte führen würde, bis er neunzig war. Der Mann hing an der Verantwortung wie an seinem Leben und würde die Zügel nicht ohne Not aus der Hand geben. Samuel bereitete sich auf ein endlos langes Leben im Schatten seines Vaters vor. Ein Leben des Abwartens. Er richtete sich darauf ein, noch viele Jahrzehnte über ein Kind zu bleiben, zu tun, was man ihm sagte, den Kopf zu senken und geduldig zu warten, bis ein schlohweißer Methusalem ihm einst am Sterbebett alles übergab. Zu einem Zeitpunkt, da er selbst schon ein alter Mann sein würde.
    Doch es war anders gekommen. Meir war binnen weniger Wochen von einem Gehirnleiden dahingerafft worden. Die wenige Zeit, die ihm noch geblieben wäre, um seinen Sohn Samuel in die Geheimnisse der Vermögensverwaltung und Geschäftsführung einzuführen, hatte er sinnlos vergeudet, indem er gegen die unbesiegbare Krankheit kämpfte und so tat, als sei alles in Ordnung. Am Schluss hatte er nicht einmal mehr die Ärzte empfangen, und so war der Platz am Schreibtisch, an dem er sein halbes Leben verbracht hatte, auch sein Todesort geworden.
    Samuel, dessen Mutter bereits kurz nach seiner Geburt gestorben war, übernahm das Erbe seines Vaters wie einen Fluch. Der Reichtum kam viel zu früh, er war nicht darauf vorbereitet, er hätte nicht einmal gewusst, wie man ein solches Vermögen hätte verprassen sollen, geschweige denn, wie man es bewahrte oder vermehrte.
    Er wusste nur, er würde die Arbeit, die sein Vater geleistet hatte, nicht bewältigen können. Für die Mietshäuser würde er Verwalter einsetzen müssen, für die Fabrik Geschäftsführer. Aber wie stellte man so etwas an? Menschen drängten sich in seinem Büro, alle gaben sie vor, Freunde und Vertraute seines Vaters zu sein, und das, obwohl Meir Rosenberg ein menschenscheuer Einzelgänger gewesen war und selten in Begleitung eines anderen gesehen wurde.
    Als die Angst vor den fremden Männern übermächtig wurde, jagte er sie aus dem Büro, und er kam sich schlecht dabei vor, denn der Raum schien noch immer seinem Vater zu gehören. Samuel hatte noch nicht den Mut gefunden, etwas daran zu verändern. Er kam sich im Stuhl seines Vaters vor wie ein Gast. Das Gefühl, auf der falschen Seite des Schreibtisches zu sitzen, ließ sich nicht abschütteln.
    Als Erstes musste er sein Vermögen mit eigenen Augen sehen, vor allem die Häuser. Er musste eine Vorstellung bekommen, wie viel Arbeit sie machten. Dann erst würde er Leute einstellen, und es würde
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