Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
Vom Netzwerk:
gleich.« Dad stand auf und ging zum Fenster. Eine Weile blieb er dort stehen, strich sich den Bart und schaute hinauf zu den Sternen, dann begann er wieder zu reden. »Sobald sich der Sturm gelegt hatte und der Damm wieder frei war, brach hier die Hölle los. Überall Polizei auf der Insel. Polizei, Krankenwagen, Hubschrauber, Küstenwache . . . es war wie ein Katastrophenfilm. Der größte Teil der Polizei kam aus Moulton und ich wusste nicht, ob ich ihnen trauen konnte, also sagte ich nichts über Lucas’ Tasche, bis irgendwann später in der Nacht Lenny aufkreuzte. Ich erzählte ihm so viel ich wusste und reichte ihm das Notizbuch samt Tasche, dann ließ ich ihn damit allein.« Er wandte sich vom Fenster ab und sah mich an. »Jamie und Sara wurden am nächsten Morgen verhaftet und Bob Toms wurde bis zur völligen Aufklärung vom Dienst suspendiert.«
    »Und was ist mit den andern?«, fragte ich. »Lee Brendell, den Rockern, Tully Jones und Mick Buck   –«
    »Das läuft noch. Es ist ein schwieriger Prozess, Cait. Die gesamte Polizei von Moulton ist eingeschaltet. Es gibt eine Menge zu klären. Diverse Anzeigen wegen Körperverletzung, versuchter Vergewaltigung, Betrugs, Korruption, Mittäterschaft . . . Ich bin ungefähr ein Dutzend Mal befragt worden.Auch Dominic musste aussagen. Bill, Rita, Shev . . . die ganze Insel ist in die Ermittlungen einbezogen.«
    »Gut so«, sagte ich.
    »Die Polizei will auch mit dir reden.«
    »Worüber?«, sagte ich scharf.
    Er sah mich auf eine sanfte Weise mahnend an und zum ersten Mal seit ewigen Zeiten spürte ich die Andeutung eines Lächelns in meinem Gesicht. Es
war
eine ziemlich alberne Frage.
    Er kam herüber und setzte sich neben mich. »Es ist schön, dich wieder lächeln zu sehen.«
    Ich sah ihn an. »Das kommt von all dem Reden über Trauer und Sterben – das hat mich richtig aufgemuntert.«
    Er lachte still. »Ich tu mein Bestes.«
    »Ich weiß – danke.«
    Wir saßen eine Weile schweigend da. Ich sah durch das Fenster den Nachthimmel an und wunderte mich ohne Ende über diesen ganzen Kosmos, diese Dunkelheit, dieses ganze Nichts, und als ich so dasaß und in die Leere hinaufblickte, dachte ich plötzlich an die schmale Bucht, die Hügel, Wälder und Wasser . . . wie sich alles immer im Kreis bewegt und sich niemals wirklich ändert. Wie Leben alles recycelt, was es benutzt. Wie das Endprodukt des einen Prozesses den Anfangspunkt eines anderen darstellt, wie jede Generation alles Lebendigen von den Stoffen abhängt, die von den vorangegangenen Generationen freigesetzt wurden . . .
    Ich weiß nicht,
warum
ich darüber nachdachte. Es schien mir einfach so in den Sinn zu kommen.
    Ich dachte auch über Krebse nach. Ich fragte mich, ob sie
wirklich
ein Gedächtnis besaßen, wie Lucas kurz überlegt hatte. Und wenn ja, woran erinnerten sie sich dann? An ihre Kindheit, ihr Krebsdasein im Kleinkindstadium? Erinnerten sie sich an sich selbst als winzig kleine Wesen, die im Sand herumliefen und zu vermeiden versuchten von Fischen und anderen Krebsen gefressen zu werden? Und an alles andere, das damals größer gewesen war als sie? Dachten sie darüber nach, während sie sich mit ihren Scheren die harten Schädel kratzten? Erinnerten sie sich an gestern? Oder erinnerten sie sich nur, was vor zehn Minuten war? Vor fünf?
    Und ich fragte mich, wie es wohl sein müsste, in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen zu werden . . .
    Über all dies und noch mehr dachte ich nach, aber so richtig überlegte ich die Dinge gar nicht. Sie waren einfach nur da, trieben in meinem tiefsten Innern herum und dachten über sich selbst nach.
    Worüber ich wirklich nachdachte, war natürlich nur Lucas.
    »Warum, glaubst du, hat er es getan?«, fragte Dad fast flüsternd.
    Ich schaute ihn an. Hinter seinem Bart und den müden Augen sah ich das Gesicht eines Kindes, eines kleinen Kindes, das seine Mutter bittet, ihm etwas zu erklären. Etwas, das so simpel ist, dass es einen verwirrt – warum? Warum hatte er sich getötet?
    »Ich weiß es nicht, Dad«, sagte ich. »Ich hab so viel darüber nachgedacht, dass ich kaum mehr weiß, worüber ich eigentlich nachdenke.«
    Dad nickte nachdenklich. »Vielleicht ist es besser, wennwir es nicht wissen. Er hatte seine Gründe, seine Geheimnisse . . . lass sie ihm. Ich glaube, das hat er verdient. Wir alle haben verdient, unsere Geheimnisse zu bewahren.«
    »Ja, das stimmt wohl . . . aber es ist trotzdem schwer, sich nicht zu fragen.«
    »Ich weiß.« Er sah
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher