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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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überlegte ich, das Loch zu füllen, wenn es keine Antworten
gibt
? Den Schmerz zu lindern, der sich nicht lindern lässt . . .? Es ergab immer noch keinen Sinn.
     
    Ungefähr einen Monat, nachdem alles passiert war, hörte mich Dad eines Nachts weinen und kam in mein Zimmer. Es war gegen Mitternacht. Das Fenster stand offen und am Himmel leuchteten die Sterne. Ein schwacher Ginstergeruchwürzte die Luft und brachte bittersüße Erinnerungen an einen Sommertag am Rand eines Gezeitentümpels beim Krebsfang zurück. Ich und Lucas . . . wir standen an einer niedrigen Stelle, auf die die mit Ginster und Strandhafer dicht bewachsenen Dünen ihre Schatten warfen. Obwohl die Sonne noch hoch stand, gab der Boden um uns herum schon ein Gefühl von Frische und Feuchte ab. Die Ginsterblüten würzten die Luft mit einem leichten Geruch nach Kokosnuss. Ich konnte den Tang im Tümpel riechen, die Erdigkeit des Schlamms, den Sand, das Salz in der Luft. Vom Strand hörte ich den klagenden Schrei eines Brachvogels. Lucas zog an der Schnur und ich sah, wie sich der Köder langsam am Stein entlangschob. Er hielt ihn eine Sekunde lang still, dann zog er von neuem leicht an der Schnur. Irgendetwas bewegte sich unter dem Stein, eine schnelle Sensenbewegung, die eine kleine Schlammwolke aufwirbelte, danach beruhigte sich alles wieder.
    Lucas lachte und holte die Angelschnur ein. »Der da ist klug. Er erinnert sich, was seinem Freund passiert ist.«
    Während er sich auf den Tümpel konzentrierte, schien die Farbe seiner Augen wegen der Lichtreflexe zu schwanken. Fasziniert sah ich zu, wie sie sich von flachsgleichem Blassblau in einen fast durchsichtigen Ton verlor, der so zart wie das Blau eines einzelnen Wassertropfens wirkte. Dann, als er die Angelschnur abermals auswarf und das Sonnenlicht auf der Oberfläche des Tümpels spielte, wurden die Augen wieder dunkel. Er wiederholte den Ablauf, zog an der Schnur, ließ sie ruhen, dann ein leichtes Ziehen, ein Ruck, wieder ruhen lassen . . .
    Als Dad leise an die Tür klopfte und fragte, ob er reinkommen dürfe, rollte sich die Erinnerung ein und flog davon. Ich setzte mich auf, wischte mir die Augen und machte für Dad Platz auf dem Bett. Er setzte sich ganz behutsam und warf einen Blick aus dem Fenster.
    »Es ist eine wunderbare Nacht.«
    Er hatte getrunken, aber nicht viel. Seine Stimme war klar, seine Augen waren müde, aber sie leuchteten und sein Atem hatte nur einen ganz leichten Geruch nach gutem irischem Whiskey. Seit Lucas’ Tod hatte er sein Trinken enorm eingeschränkt. Er trank noch immer regelmäßig, aber nie so viel, dass er die Kontrolle verlor. Nur so viel, glaube ich, dass er den Schmerz besänftigen konnte. Nachts kam er oft in mein Zimmer. Wir redeten nicht viel. Die meiste Zeit saßen wir einfach beieinander, waren zusammen, bis schließlich einer von uns einschlief. Er hörte zu, wenn ich reden wollte, aber ich wollte fast nie. Wir wussten beide, dass es nicht viel zu sagen gab.
    Aber in jener Nacht, nachdem wir eine Weile zusammengesessen und die Nachtluft eingeatmet hatten, erzählte er mir etwas, das ich nie mehr vergessen habe. Ich bin mir nicht sicher, ob es als Hilfe gemeint war oder ob es einfach etwas war, von dem er dachte, er müsse es erzählen. Und ich weiß auch immer noch nicht genau, was das Ganze bedeutet. Aber es blieb in mir haften, und wenn etwas haften bleibt, lohnt es sich meist, dass man sich dran erinnert.
    Er erzählte mir, dass Trauer immer anhält und es, wenn sie nicht für immer anhielte, keine echte Trauer wäre. Er sagte: »Ich weiß, es klingt nicht sehr glaubwürdig, aber von demMoment an, wenn du aufhörst gegen sie anzukämpfen und sie als Teil von dir akzeptierst, ist sie nicht mehr so schlimm. Sie schmerzt weiter, sie zerreißt dich weiter, aber auf andere Weise. Eine persönlichere Weise. Du kannst mit ihr umgehen. Sie ist
deine
Trauer. Sie gehört zu dir. Aber der
Schmerz
der Trauer . . .« Er zögerte. »Der Schmerz, den du jetzt fühlst, hält nicht immer an, Cait. Es geht nicht. Er tut zu weh. Du kannst mit so viel Schmerz nicht leben – nicht für immer. Dein Körper hält das nicht aus. Dein Kopf hält das nicht aus. Er weiß, wenn du den Schmerz nicht überwindest, wird er dich umbringen. Und das will er nicht. Deshalb
lässt
er ihn dich überwinden.«
    »Aber ich will nicht   –«
    »Ich weiß . . . ich weiß. Doch pass auf, ihn überwinden bedeutet ja nicht ihn vergessen, es heißt nicht, dass du deine Gefühle
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