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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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wässriges Ploppen, die Geräusche von Würmern und Muscheln, die ihren schlammigen Tätigkeiten nachgingen, wie sie es schon seit Millionen von Jahren taten. So ist es, dachte ich. Licht. Dunkelheit. Hassspiele. Verquere Gefühle . . . Dinge ohne gewachsenen Geist. Kein morgen. Keine Geschichte. Ein Herzschlag . . .
    »Aber wie weißt du, wo du hergehen musst?«
    Lucas’ Stimme flüsterte im Wind:
Es ist ganz einfach. Du kannst den festen Boden sehen. Schau her. Siehst du, wie er die Luft färbt?
    Jetzt sah ich es.
    Klar und deutlich.
    Einfach.
    Ich machte einen Schritt vorwärts. Eine vertraute Stimme rief meinen Namen. Ich glaube, es war Dad. Ich weiß es nicht. Ich war nicht da. Ich trat in die gefärbte Luft . . .
    Und dann war es verschwunden.
    Die Luft war grau und der Schlamm braun und ich wusste nicht, wohin ich trat. Ich hatte es auch noch nie gewusst. Etwas zog mich vom Rand zurück. Etwas ließ mich Atem holen und meinen Blick heben . . . und ich schaute über das Watt. Die Luft war still und das Meer unnatürlich ruhig. Nichts regte sich. Keine Vögel, kein Wind, keine Wellen.
    Der Moment ist ewig.
    Lucas war an den Überresten des alten Holzboots stehen geblieben und warf einen Blick über den Schlick in Richtung Wald. Er stand von mir abgewandt und stützte eine Hand auf den schwärzlichen Balken, der aus dem Schlick emporragte. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber das musste ich auch gar nicht. Seine Züge waren fest in meinem Hirn eingeprägt – seine blassblauen Augen, sein trauriges Lächeln, seine flüchtige Gegenwart. Die Wolken teilten sich und eine Lichtsäule brach aus dem Himmel und hüllte ihn in Gold. Ich sah seine Haut, seine Kleidung, sein Haar, seinen Körper . . . ich sah, wie er einen morschen Holzsplitter von dem Bootswrack löste und ihn zwischen den Fingern zerrieb. Ich sah, wie er am Wrack vorbei hinüber in die Seele des Schlicks blickte.
    Und dann trat er mit einer einfachen Bewegung aus dem Sonnenstrahl und versank in den luftlosen Tiefen.

Dreiundzwanzig
    D ad hatte Recht, als er sagte, ich würde mich, wenn ich dies aufschriebe, nicht besser fühlen – genauso war es. Es hat mir ein paar Dinge klar gemacht. Es hat mich ein bisschen was über mich selbst gelehrt. Es hat mir gezeigt, was ich bin oder was ich war oder was ich glaubte zu sein. Und ja, es hat der Traurigkeit ein bisschen Leben gegönnt. Aber ich glaube nicht, dass es mir geholfen hat, irgendwas zu verstehen. Es hat keine Fragen beantwortet. Es hat nichts verändert.
    Aber zumindest hab ich es getan – ich hab mir eine Geschichte geweint.
    Und das ist doch was, vermute ich mal.
    Jetzt, während ich hier an meinem Schreibtisch sitze und in die Gesichter schaue, die ich kenne, frage ich mich, wie sie endet.
     
    Als Lucas aus dem Sonnenstrahl trat und im Schlamm versank, als ich sah, wie der strohblonde Wuschelkopf in den schimmernden Schlick gesogen wurde . . . das war das Ende des Moments. Er war weg. Es war zu Ende. Vorbei. Erledigt.Ich weiß es heute und ich wusste es damals. Auch als sich der Schlamm setzte und keine Blasen mehr aufstiegen, wusste ich es. Auch als ich weinte und schrie und mich in den Schlamm warf, wusste ich es. Auch als Dad und Dominic reinsprangen, mich herauszogen und mir den Schlamm aus dem Mund kratzten, wusste ich es. Es war vorbei. Ich wusste es tief in meinem Innern.
    Es war mein Ende.
    Aber alles andere ging weiter.
    Die Erde drehte sich weiter.
    Ich habe keine bewusste Erinnerung an die unmittelbaren Nachwehen. Vage weiß ich noch, dass ich nach Hause zurückgetragen wurde und dabei um mich trat und wimmerte, dass ich zum Himmel schrie, dass ich Dad schlug, ihn verfluchte, die Welt verfluchte . . . und ich erinnere mich noch an das Gefühl, wie der kalte Regen an meinem Gesicht herunterströmte, sich mit dem Schlamm und den Tränen mischte und meinen Mund und die Kehle mit dem körnigen Geschmack von Salz und Verwesung füllte. Ja . . . ich erinnere mich. Ich kann ihn schmecken – den Geschmack uralten schwärzlichen Schlicks. Aber das ist auch alles, was ich mir mit wirklicher Klarheit vergegenwärtigen kann. Der Rest ist nur ein verschwommener Nebel. Dad muss mich den ganzen Weg zurück getragen haben; über den Strand, über die schmale Bucht, den Weg hinauf, durch den Hof und ins Haus. Er muss mir aus den vom Schlick voll gesogenen Kleidern geholfen, mich gewaschen und abgetrocknet, mich ins Bett gebracht und beruhigt und dann den Arzt gerufen haben . . . aber ich weiß
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