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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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verleugnest, sondern es heißt, den Schmerz auf ein erträgliches Maß zurückzuführen, ein Maß, das dich nicht zerstört. Ich weiß, dass die Idee, ihn zu überwinden, im Moment unvorstellbar ist. Unmöglich. Unfassbar. Undenkbar. Du
willst
ihn doch gar nicht überwinden. Warum solltest du? Er ist alles, was du hast. Du willst keine freundlichen Worte, es ist dir
egal
, was andere Leute denken oder sagen, du willst nicht wissen, wie
sie
sich gefühlt haben, als
sie
jemanden verloren. Sie sind schließlich nicht du, oder? Sie können nicht fühlen, was du fühlst. Das Einzige, was du willst, ist das, was du nicht haben kannst. Es ist fort. Und kommt nie zurück. Niemand weiß, was das für ein Gefühl ist. Niemand weiß, wie das ist, den Arm auszustrecken, um jemanden zu berühren, der gar nicht da ist und nie mehr da sein wird. Niemandkennt diese unausfüllbare Leere. Niemand außer dir.« Er sah mich an, mit einer einzelnen Träne im Auge. »Du und ich, Kleines. Wir wollen nichts. Wir wollen sterben. Aber das Leben lässt uns nicht. Wir sind alles, was es hat.«
     
    Danach erzählte ich ihm alles. Ich erzählte ihm von der Begegnung mit Jamie Tait am Strand. Ich erzählte ihm, was auf Joe Ramptons Weg passiert war. Ich erzählte ihm, was ich für Lucas empfand, und auch von dem Tag, als er mich mit zu sich in den Wald nahm. Ich erzählte, was er mit Jamie gemacht hatte und was er hatte tun wollen. Alles. Ich war überrascht, wie ruhig es Dad aufnahm. Er wurde nicht laut, schrie nicht oder drohte mit Mord, sondern hielt einfach nur meine Hand und hörte zu. Hin und wieder nickte er und streichelte mich, wenn es zu viel wurde. Und als alles vorbei war, als ich mir alles von der Seele geredet hatte, saß er eine Stunde oder länger ruhig neben mir, stellte Fragen, verschaffte sich Klarheit über ein paar Details, sprach noch einmal die Dinge an, die er nicht ganz verstand, und dann fing er an zu erzählen.
    Abgesehen von meinem täglichen Spaziergang an den Strand war ich seit Lucas’ Tod nirgends gewesen. Ich war nicht im Dorf gewesen, ich hatte mit niemandem gesprochen. Ich wusste nicht, was anderswo auf der Insel geschah. Es kümmerte mich nicht. Es spielte keine Rolle. Ich hatte nicht mal darüber gesprochen, was mit Lucas geschehen war. Weder mit Dad noch mit sonst wem. Es tat zu weh. Lenny war einige Male vorbeigekommen, um ein paar Fragen zu stellen, aber wir waren nie sehr ins Detail gegangen. Ich denke, Dad hatte ihn wahrscheinlich gebeten mich so weitwie möglich in Ruhe zu lassen. Es muss mir wohl trotzdem bewusst gewesen sein, dass die Dinge weitergingen – Befragungen, neue Berichte, solche Sachen   –, aber nichts schien für mich von Bedeutung. Es geschah alles
da draußen . . .
und
da draußen
überstieg mein Begriffsvermögen. Es war nichts. Geräusche, Bewegung, Worte . . . nichts. Und obwohl mir klar war, dass ich irgendwann drüber nachdenken musste, wusste ich auch, dass
irgendwann
nicht jetzt war. Irgendwann bedeutete später, eine Zeit am Horizont.
    In der Nacht, als Dad anfing zu erzählen, kam der Horizont bei mir an.
    »Du musst dir keine Sorgen mehr wegen Jamie Tait machen«, sagte er. »Du musst dir wegen gar nichts mehr Sorgen machen. Lucas hat in einem Notizbuch in seiner Tasche einen vollständigen Bericht über alles hinterlassen. Daten, Zeiten, Orte, Personen.«
    »Über alles?«, fragte ich.
    Dad nickte. »Nachdem ich dich an jenem Tag vom Strand zurückgebracht hatte, fand ich die Tasche in meinem Zimmer und versteckte sie. Ich machte mir Sorgen wegen der Horde am Strand. Ich dachte, vielleicht kämen sie zurück und suchten weiter Ärger . . . aber ich hätte gar keine Angst haben müssen. Die meisten liefen am Strand entlang zurück ins Dorf. Ungefähr eine Stunde später sah ich Jamie und seine Jungs den Weg hochkommen, doch die Kampflust war raus. Sie hatten ihr Interesse verloren.«
    »Sie hatten bekommen, was sie wollten«, sagte ich bitter.
    »Ich glaube nicht, dass sie je
wussten
, was sie wollten. Vielleicht wusste es Jamie auf seine verdrehte Art und Sara,aber der Rest . . .« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Sie sind einfach in ihre Autos gestiegen und weggefahren. Haben nicht mal mehr einen Blick auf das Haus geworfen. Sie wirkten halb tot. Verwirrt. Geschockt. Beschämt. Als hätten sie gerade erst begriffen, in was sie sich da reingeritten hatten . . . als könnten sie es nicht ganz verstehen.«
    »Und Bob Toms?«, fragte ich.
    »Zu ihm komme ich
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