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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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nichts davon. Ich war nicht anwesend.Ich war körperlos, geistlos, verloren in der Hölle. Mein Bewusstsein war in tausend Stücke zerrissen worden.
    Für die nächsten paar Tage verschwand die Außenwelt und ich lebte in einem Traum aus verhangenem Licht und murmelnden Stimmen. Ich schlief ohne zu schlafen und schwebte in einem merkwürdigen Zustand zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit. Seltsame Dinge geschahen. Die Abmessungen meines Zimmers lösten sich auf. Die Wände, die Fenster, die Decke, der Fußboden, alles schimmerte wie ein Traum. Aber es war kein Traum. Es war eine fiebrige Wahrnehmung, für die tausend Kilometer dasselbe waren wie ein Zentimeter. Die Welt wurde elastisch. Winkel und Flächen gewannen außerirdische Qualitäten und kehrten ihr Inneres nach außen. Farben entstanden und verbanden sich, dann änderten sie ihre Form im konturlosen Licht. Ich sah verschiedene Töne von Blutrot und schwebendem Grün, dazu endlose Schwarztöne, jagende weiße Blitze, Suchscheinwerfer, Sterne und brennende Sonnen. Ich sah abnorme Formen, Formen und Farben, die noch nie jemand gesehen hat. Ich sah Dinge als Drachen in einem Geisterwind. Meine inneren Sinne waren verwirrt. Das, was mir sagen sollte, wo ich war und wer ich war, funktionierte nicht mehr. Meine Glieder gehörten jemand anderem, einem langarmigen Riesen oder einem gelähmten Idioten, der seine riesigen Hände gen Himmel streckte. Ich war nicht
ich
. Ich war ein kleines Mädchen, das auf einer einsamen Insel ausgesetzt wurde. Ich war ein blutüberströmtes Mädchen, das in einem Steinbunker lag. Ich war ein Junge, ein Angler, der sich blind durch den Untergrundschlamm schob, auf der Suche nach Austern. Mir warheiß und kalt, ich war müde und krank. Mir war übel. Mein Körper kämpfte gegen mich an. Er tat nicht, was er sollte. Manchmal konnte ich mich kein Stück bewegen, selbst wenn mein Leben davon abgehangen hätte. Dann wieder konnte ich nicht
aufhören
mich zu bewegen; mich zu verrenken, zu drehen, zu kriechen, zu zucken, mich in schweißnasse Laken zu wickeln und zu weinen, weinen, weinen . . .
    Ich weiß nicht, was es war.
    Es ergab keinen Sinn.
    So ging es zwei, drei, vielleicht vier Tage und dann kam ich allmählich wieder zu mir. Langsam wurde ich mir wieder meiner Umgebung bewusst. Ich erkannte die Leute wieder, die hereinkamen und nach mir schauten. Dad, der Arzt, Lenny, Dominic. Simon. Bill und Rita. Ich konnte hören, was sie sagten. Ich hörte zu. Ich redete. Ich dachte nach. Und nach ein paar weiteren Tagen im Bett spürte ich, dass ich – körperlich – wieder ich selbst war. Ich war Caitlin McCann. Ich konnte morgens aufstehen, mich anziehen, essen, trinken, atmen. Ich konnte spazieren gehen, ich konnte mich unterhalten, ich konnte Dinge sehen, ich konnte sie hören, fühlen, ich konnte auch Dinge tun . . . aber das war alles nur an der Oberfläche. Dort, wo es zählt – in meinem Herzen, in meiner Seele, in mir   –, war ich nirgends.
    Ich hörte lange nicht auf zu weinen. Tagelang, wochenlang, monatelang . . . Zeit hatte keine Bedeutung. Die Tage kamen und gingen, der Sommer ging zu Ende, die Schule fing an, Dominic ging zurück zur Uni, die Blätter an den Bäumen wurden gelb und die ganze Zeit flossen meine Tränen weiter. An manchen Tagen ging es besser als an anderen. An Schultagen,arbeitsreichen Tagen, Tagen, an denen ich keine Zeit hatte nachzudenken . . . an manchen Tagen weinte ich fast gar nicht. Aber nachts, allein in der Stille meines Betts, das war die Zeit, wenn es richtig wehtat. Wenn ich nirgendwo anders hin, mich nirgends verstecken konnte, wenn der Wind in den Bäumen flüsterte und der Atem des Meers die Nacht zum Schweigen brachte . . .
    Wenn ich den Sommerregen weinte.
    Ich weinte so viel . . .
    Ich dachte, ich würde nie wieder aufhören.
    Es gab keinen Grund aufzuhören. Es gab nichts, auf das ich mich freuen konnte, nichts, worüber ich lächeln konnte, nichts, was ich wollte oder brauchte, einfach nur lange Tage und endlose Nächte des Schmerzes und der Leere. Manchmal wurde es so schlimm, dass ich mich fast selber verlor. Dunkle Gedanken setzten sich in meinem Kopf fest. Düstere Fragen: Was für ein Leben ist das? Ist es das alles wert? Macht es wirklich Sinn zu leben? Ich hatte keine Antworten. Ich wusste noch nicht mal, wo ich sie finden könnte. Vielleicht gab es ja gar keine Antworten? Vielleicht tat es deshalb so weh? Ich fing sogar an über Gott nachzudenken. Vielleicht ist er ja dazu da,
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