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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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Dominic, Deefer, Simon, Dad, alle von der Insel machten mit, alle stürmten sie über den Strand und forderten Blut . . . und ich war auch da. Ich war mitten unter ihnen. Ich lief mit der Meute. Ich spürte den nassen Sand unter meinen Füßen, den Regen in meinem Haar, das Gewicht des Steins in meiner Hand. Ich spürte mein Herz vor Angst und Aufregung schlagen, während ich über den Strand lief, am Bunker vorbei, in Richtung Point. Der Junge hatte aufgehört zu laufen und stand am Rand des Watts. Überall um ihn herum schimmerte die Luft in nie gesehenen Farben. Er blickte über die Schulter, sah mich mit flehenden Augen an und bat um Hilfe. Aber was konnte ich tun? Nichts. Es waren zu viele. Es war zu spät.
BLEIB NICHT STEHEN!
, schrie eine Stimme. Es war meine.
TU’S NICHT! BLEIB NICHT STEHEN! LAUF WEITER! GIB NICHT AUF! LAUF EINFACH! LAUF WEITER, FÜR IMMER . . .
    Das Motorrad schlitterte und kam zitternd zum Stehen. Ich öffnete die Augen. Der Alptraum war kein Alptraum. Diesmalgab es kein Erwachen. Wir waren an der schmalen Bucht. Die Brücke war überflutet. Hinter den Salzwiesen sah ich die Horde über den Strand verteilt, eine amorphe Masse, die sich durch den durchnässten Sand in Richtung Point vorkämpfte, wo Lucas am Rand des Watts stand und in dem dunklen Licht des Himmels wartete. Er wirkte so klein. Dann schaute ich ein zweites Mal und ich sah ihn wachsen, sich aus dem Sand erheben und rings um ihn herum sank der Sturm in sich zusammen und die See war ruhig. Schweigend kreisten Seevögel in der Luft über seinem Kopf. Die Flut war zurückgewichen und die schleimige braune Schlickfläche erstreckte sich vor ihm. Ein Windhauch pfiff leise über das Watt, dann legte er sich. Blasses Sonnenlicht brach zwischen den Wolken hindurch und schimmerte matt im Glanz winziger Muscheln.
    Ich zitterte.
    Dominic hielt neben uns und ließ die Maschine aufheulen. »Was machst du?«, rief er atemlos. »Worauf wartest du?«
    Dad wies auf die überflutete Brücke. »Zu tief für die Motorräder.«
    »Na und? Dann steig
ab
! Was ist los mit dir?
Komm schon!
«
    Ohne den Motor auszuschalten schwang er sich von dem Motorrad und lief los. Ich erwachte aus meiner Trance und folgte ihm. Als wir die überflutete Böschung zur Brücke hinunterwateten, hörte ich Dad hinter uns durchs Wasser spritzen.
    »Kürzt nach links ab«, rief er. »Das geht schneller.«
    Ich tauchte als Erste wieder aus der Wasserflut auf und spurtete, mit Dominic dicht hinter mir, über den Sand. Voruns sah ich die Menge zum Point hin aufrücken. Die vorn verlangsamten ihre Schritte, damit die andern sie einholen konnten. Sie sahen, dass Lucas auf sie wartete, und sie wollten ihm nicht allein begegnen. Ich lief schneller als je zuvor in meinem Leben. Der Boden verschwand unter meinen Füßen und der Strand flog als Schemen vorbei. Ich war mir vage bewusst, dass es regnete und Dad rief und Deefer bellte, aber es bedeutete mir nichts. Meine Sinne waren auf den Kopf gestellt. Nichts bedeutete etwas, nur das Laufen. Der stürmische Geruch der See, der Sand, die merkwürdig kalte Luft – nichts. Der Schmerz in meinen Beinen und die Stiche in meiner Lunge – nichts. Der Bunker, ein grauer Betonhaufen, eingezäunt mit blau-weißem Absperrband, eine platt gefegte Sandfläche, da wo der Hubschrauber gelandet war . . . der Bunker. Eine dreckige Dunkelheit aus abgestandenem Bier, Whiskey, Urin, Angst . . . Haut, Glas, Stoff, Haare, Hände, Finger, Konturen, zitterndes Fleisch, sich öffnende Münder, ein zerstörtes Gesicht, starr vor Verlangen . . .
    Nichts.
    Laufen.
    Am Rand der Bucht entlang, unter den Wolken her, durch die Luft, über den Sand, stramm laufen, hinunter zum Ufer, hinunter zum Meer, hinunter zum Watt, wo die Welt anfängt und aufhört . . . und dann war ich da und brach durch einen Wall von Menschen, stoßend, schiebend, rufend . . .
    »Aus dem Weg! Bewegt euch!
Bewegt euch!
«
    Sie bewegten sich. Ihre Körper waren weich und still. Augen leer, Köpfe leer, so schlurften sie auseinander und ließen mich durch ohne zu fragen, wer oder was ich war. Sie hattennur Augen für Lucas. Und als ich nach vorn zur Spitze der Menge durchbrach und atemlos auf den Rand des Watts zustolperte, sah ich, warum. Er schritt langsam über das Watt auf den Wald zu . . . seinen Weg gehend und Geheimnisse flüsternd . . . ein wandelnder Traum. Der Regen hatte aufgehört und schwache blubbernde Geräusche trieben von der Oberfläche herüber. Tröpfeln, Klicken und
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