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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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Eins
    I ch sah Lucas zum ersten Mal letzten Sommer an einem sonnigen Nachmittag Ende Juli. Natürlich wusste ich da noch nicht, wer er war . . . das heißt, wenn ich es mir genau überlege, wusste ich nicht einmal,
was
er war. Das Einzige, was ich vom Rücksitz des Wagens aus erkennen konnte, war eine grün gekleidete Gestalt, die im flimmernden Dunst der Hitze den Damm entlangtrottete; eine schmächtige, zerlumpte Person mit einem Wuschelkopf aus strohblondem Haar und einer Art zu gehen – ich muss immer noch lächeln, wenn ich dran denke   –, einer Art zu gehen, als würde er der Luft Geheimnisse zuflüstern.
    Wir waren auf dem Weg vom Festland zurück.
    Dominic, mein Bruder, war bei Freunden in Norfolk gewesen, nachdem er einen Monat zuvor sein erstes Jahr an der Uni beendet hatte. Am Morgen hatte er angerufen, er sei auf dem Weg nach Hause. Sein Zug sollte um fünf ankommen und er hatte gefragt, ob wir ihn am Bahnhof abholen würden. Eigentlich hasst es Dad, gestört zu werden, wenn er schreibt (was er fast immer tut), und genauso hasst er es, irgendwo
hin
zu müssen, aber wenn man mal vom üblichen Seufzen undStöhnen absah –
Warum kann der Junge kein Taxi nehmen? Was hat er gegen den verdammten Bus?
–, dann konnte ich am Blitzen in seinen Augen erkennen, dass er sich ehrlich darauf freute, Dominic wiederzusehen.
    Nicht dass Dad unglücklich war, die ganze Zeit mit mir zu verbringen, aber seit Dom an der Uni war, hatte er, glaube ich, das Gefühl, als fehle etwas in seinem Leben. Ich bin sechzehn (damals war ich fünfzehn) und Dad ist irgendwas über vierzig. Schwierige Alter – für uns beide. Erwachsen werden, erwachsen sein müssen, Mädchensachen, Männersachen, mit Gefühlen klarkommen, die keiner von uns versteht . . . das ist nicht leicht. Wir können einander nicht immer geben, was wir brauchen, egal wie sehr wir uns bemühen. Manchmal hilft es einfach, jemanden dazwischen zu haben, jemanden, an den man sich wenden kann, wenn einem die Dinge über den Kopf wachsen. Wenn sonst nichts, so war Dominic doch zumindest immer ein guter Vermittler gewesen.
    Natürlich war das nicht der einzige Grund, warum Dad sich freute ihn wiederzusehen – Dominic war schließlich sein Sohn. Sein Junge. Er war stolz auf ihn. Er machte sich Sorgen um ihn. Er liebte ihn.
    Ich auch.
    Aber irgendwie war ich nicht ganz so aufgeregt ihn wiederzusehen wie Dad. Ich weiß nicht, warum. Nicht dass ich ihn nicht sehen
wollte
, ich wollte es ja. Es war nur . . . ich weiß auch nicht.
    Irgendwas störte mich.
    »Bist du fertig, Cait?«, hatte Dad gefragt, als es Zeit war aufzubrechen.
    »Warum fährst du nicht allein?«, schlug ich vor. »Dann könnt ihr euch auf dem Rückweg mal so richtig ausquatschen zwischen Vater und Sohn.«
    »Ach, komm, er will doch auch seine kleine Schwester wiedersehen.«
    »Na gut, warte eine Sekunde. Ich hol eben Deefer.«
    Dad hat fürchterliche Angst, allein zu fahren, seit Mum vor zehn Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Ich versuche ihn immer zu ermutigen, aber ich mag auch nicht zu sehr drängen.
     
    Jedenfalls waren wir aufs Festland gefahren und hatten Dominic vom Bahnhof abgeholt, und da saßen wir nun alle – die ganze Familie McCann in unseren altersschwachen Fiesta gestopft, auf dem Weg zurück zur Insel. Dad und Dominic vorn, ich und Deefer auf der Rückbank. (Deefer ist übrigens unser Hund. Ein großes, schwarzes, übel riechendes Etwas mit einem weißen Streifen über dem einen Auge und einem Kopf groß wie ein Amboss. Dad behauptet immer, Deefer sei eine Mischung aus Stinktier und Esel.)
    Dominic hatte, seit er seinen Rucksack in den Kofferraum geworfen und in den Wagen gestiegen war, nonstop geredet. Uni hier, Uni da, Schriftsteller, Bücher, Zeitschriften, Partys, Leute, Geld, Clubs, Konzerte . . . er unterbrach sich nur, wenn er eine Zigarette anzündete, was ungefähr alle zehn Minuten der Fall war. Und wenn ich sage Reden, dann meine ich nicht Sich-Unterhalten, sondern Brabbeln wie blöde. ». . . Ich sag dir, Dad, du würdest es verdammt nicht glauben . . . diese Idioten haben doch tatsächlich verlangt, dass wir
EastEnders
gucken, Himmel noch mal . . . Soll irgendwas mit
Massenkultur
zu tun haben, was immer das sein mag . . . Und noch so eine Sache, die allererste Vorlesung, ja? Ich sitze da, höre diesem schwachsinnigen alten Professor zu, der über
Marxismus
oder sonst irgendeinen Scheiß rumschwafelt, und denk mir meinen Teil. Plötzlich hört er auf zu
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