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Lucas

Lucas

Titel: Lucas
Autoren: Kevin Brooks
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verbunden, die auf einem kurzen Damm das Mündungsgebiet des Flusses durchquert. Die meiste Zeit würde ein Fremder gar nicht merken, dass es ein Damm ist, und auch nicht glauben, dass Hale eine Insel ist, denn in der Regel ist die Mündung nichts als eine weite Fläche aus Reet und braunem Schlick. Aber bei Springflut, wenn das Wasser der Mündung etwa einen halben Meter über die Straße steigt und niemand mehr rüberkann, bis die Ebbe einsetzt, dann weiß man, es ist eine Insel.
    Aber als wir an jenem Freitagnachmittag die Mündung erreichten, war Ebbe und der Damm lag klar und trocken in der flimmernden Hitze vor uns – ein erhöhter Streifen blassgrauer Beton, begrenzt von weißen Geländern, unterhalb davon auf beiden Seiten ein Fußweg und Kopfsteinpflaster als Uferbefestigung bis hinunter ins Wasser. Hinter den Geländern glänzte die Mündung in diesem wunderbaren silbernen Licht, das nachmittags aufkommt und bis zum frühen Abend anhält.
    Wir waren halb über den Damm, als ich Lucas sah.
    Ich erinnere mich ziemlich genau an den Moment: Dominic lachte gerade dröhnend über irgendetwas, das er gesagt hatte, und tastete dabei seine sämtlichen Taschen ab auf der Suche nach einer neuen Zigarette; Dad versuchte, so gut erkonnte, amüsiert zu wirken und zog müde an seinem Bart; Deefer saß wie immer kerzengerade in seiner Ich-bin-einsehr-ernster-Hund-in-einem-Auto-Pose und blinzelte nur ab und zu mal; ich hatte mich zur Seite gelehnt, um den Himmel besser sehen zu können. Nein . . . das kriege ich besser hin. Ich erinnere
exakt
meine Haltung. Ich saß leicht rechts von der Mitte der Rückbank, die Beine übereinander geschlagen und ein wenig nach links gebeugt, um über Dominics Schulter hinweg durch die Windschutzscheibe zu sehen. Den linken Arm hatte ich ausgestreckt und um Deefers Rücken gelegt, die Hand ruhte auf seiner Decke, die voller Staub und Hundehaare war. Mit der rechten Hand hielt ich mich am Rahmen des offenen Fensters fest, damit ich mehr Halt hatte. Ich erinnere alles noch ganz genau. Das Gefühl des heißen Metalls in meiner Hand, die Gummileiste, den kühlenden Wind auf den Fingern . . .
    Das
war der Moment, als ich ihn zum ersten Mal sah – eine einsame Gestalt am äußersten Ende des Damms, auf der linken Straßenseite, mit dem Rücken zu uns, unterwegs zur Insel.
    Abgesehen vom Wunsch, Dominic möge endlich aufhören so laut herumzublöken, war mein erster Gedanke: Wie seltsam, jemanden über den Damm gehen zu sehen. Leute, die zu Fuß unterwegs sind, gibt es hier selten. Die nächste Stadt ist Moulton (wo wir gerade herkamen), ungefähr fünfzehn Kilometer weit weg auf dem Festland; zwischen Hale und Moulton gibt es nichts außer kleinen Ferienhäusern, Bauernhöfen, Heideland, Viehweiden und ein, zwei abgelegenen Pubs. Deshalb gehen die Inselbewohner nie zu Fuß, es gibt einfach nichts in der Nähe,
wohin
man laufen könnte. Undwenn man nach Moulton will, fährt man entweder mit dem Auto oder nimmt den Bus. Daher sind die einzigen Fußgänger, mit denen man hier in der Gegend rechnen kann, Wanderer, Vogelliebhaber, Wilddiebe oder, ganz selten, Leute wie ich, die einfach gern laufen. Doch selbst aus der Entfernung konnte ich erkennen, dass die Gestalt da hinten in keine dieser Kategorien passte. Ich war mir nicht ganz im Klaren, warum, aber ich wusste es. Deefer wusste es auch. Er hatte die Ohren gespitzt und blinzelte neugierig durch die Windschutzscheibe.
    Als wir näher kamen, konnte ich die Gestalt besser wahrnehmen. Es war ein junger Mann oder ein Junge, lässig angezogen mit graugrünem T-Shirt und ausgebeulter grüner Hose. Er hatte sich eine Armyjacke um die Taille gebunden und eine grüne Leinentasche über die Schulter geworfen. Das Einzige an ihm, was nicht grün war, waren die zerschlissenen schwarzen Boots an seinen Füßen. Auch wenn er eher klein wirkte, war er doch nicht so schmächtig, wie ich anfangs gedacht hatte. Er war zwar nicht unbedingt muskulös, aber er sah auch nicht eben schwächlich aus. Es ist schwer zu erklären. Er besaß so etwas wie eine verborgene Kraft, eine anmutige Stärke, die sich in seiner Ausgeglichenheit zeigte, in seiner Haltung, in der Art, wie er ging . . .
    Wie ich schon sagte, wenn ich an Lucas’ Gang denke, muss ich jedes Mal lächeln. Ich habe diesen Gang noch unglaublich lebendig in Erinnerung; sobald ich meine Augen schließe, sehe ich ihn genau vor mir. Ein lockeres Traben. Schön und stetig. Nicht zu schnell und nicht zu langsam.
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