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Lipstick

Lipstick

Titel: Lipstick
Autoren: Susanne Fuelscher
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ging, ein paar Happen aß und mich dann wieder zufrieden in meine Decke rollte. An dem Tag, als Tom auch noch seine dreckige Wäsche abholte, um sie in Ritas Waschmaschine zu stopfen, stand ich ebenfalls nachts um zwölf auf, verschlang einen Rest Greyerzer, die letzte Scheibe Brot und hatte danach ein Hungerloch im Magen, als hätte ich den ganzen Tag über noch nichts zu futtern bekommen.
    Ich überlegte kurz – es gab nur drei Möglichkeiten. Ich konnte mich wieder ins Bett legen und den Hunger einfach ignorieren, den Pizzaservice anrufen oder mich gleich anziehen und in eine Kneipe gehen. Schon war ich im Bad, putzte meine Zähne, klatschte ein bißchen Wasser und Schminke ins Gesicht. Ich griff nach meinen Kleidern vom Tag, Jeans, T-Shirt und Strickjacke, und erst als ich auf die Straße trat, merkte ich, was ich da eigentlich tat: Mitten in der Nacht verließ ich die Wohnung, nur um in irgendeiner gottverdammten Kaschemme meinen Magen zu beruhigen.
    Es war ein wenig kühl geworden. Ich schlang die Arme fest um meinen Körper und steuerte die nächstgelegene Kneipe an – das »Borchers«, ein aufgemöbeltes Studentenlokal, in dem zuweilen auch Hamburger Säuferprominenz verkehrte.
    Die Erikastraße lag wie immer friedlich und völlig still da. Ich passierte den Käseladen, den Penny-Markt, verließ dann, während ich die Straße überquerte und schon das Stimmengewirr der späten Kneipengänger vernahm, die dörfliche Idylle. Trotz der Nachttemperaturen waren alle Holzbänke unter den gigantischen Kastanien an der Vorderfront des »Borchers« belegt. Ich ging rein, aberauch drinnen war es um diese Uhrzeit voller, als ich erwartet hatte. Ohne Rücksichtnahme drängelte ich mich am Tresen vorbei und versuchte all die bierseligen Blicke zu ignorieren. Ganz hinten an der Heizung war noch ein kleiner Tisch frei, links von mir eine Gruppe junger Leute mit langen Haaren und hippen Klamotten, rechts ein linksliberal-emanzipatorischer Frauentisch – oder was ich dafür hielt.
    Sollte mir recht sein. Das Essen war schnell ausgewählt – in solchen Kneipen konnte man nur überbackenen Camembert bestellen –, dazu orderte ich ganz gegen meine Gewohnheit ein Bier.
    Und was, wenn ich jetzt die Beherrschung verlieren würde und einfach zu heulen anfing? Ohne ein Quentchen Selbstbewußtsein in der Tasche passierte das schneller als gedacht. Nahe am Wasser gebaut, die Kleine – ich haßte alle, die so etwas sagten. Und ich haßte Ralf Witthusen und Tom. Beide hatten sie die verschiedensten Facetten zynischen Grinsens drauf, der eine subtiler, der andere plumper, und je länger man mit ihnen zusammen auf dieser Welt herumturnte, desto besser gelang es ihnen, einen zu demütigen.
    Der Camembert schmeckte wunderbar. Nach früher, genauer gesagt nach Seminarschluß, und mit einem kräftigen Schmatzen warf ich all meine Vorstellungen von einer guten Küche über Bord. Bier in sich reinschütten, den Preiselbeersaft von den Fingern abschlecken, danach eine Zigarette anzünden und den Rauch wie eine schlingernde Wand vor sich auftürmen.
    Ich entdeckte ihn eher als er mich, obwohl er genau auf meinen Tisch zusteuerte. Es war sein Gang, der schnelle, hektische Schritt – einfach unverwechselbar.
    »Hallo, Paul!«
    Eine Zehntelsekunde lang war ich versucht, seine Überraschung auszunutzen und zu türmen, aber da ich dank meiner Eltern nicht im D-Zug durch die Kinderstube gerast, sondern ordentlich in einer Bimmelbahn dahergezuckelt war, blieb ich sitzen und wartete, bis er mir unter Zuhilfenahme seines ganzen Gewichts einen feuchten Kuß aufgedrückt hatte. Katja! Mein Gott! So lange nicht gesehen! Gut siehst du aus! Was machst du hier? Und Tom? Und die Zeitung? …?
    Immer noch dieser näselnde Tonfall und die Doppelgrübchen in jeder Wange, die sich in seinem Gesicht gleich zu Vierfachgrübchen addierten. Niemand hatte sich um seine Koteletten gekümmert, sie waren leicht aus den Fugen geraten und zudem von einzelnen weißen Fäden durchzogen. Ich sprach ein paar belanglose, konfus zusammengewürfelte Sätze. Was sollte ich nur so schnell auf die vielen Fragen antworten – vier lange Jahre hatten wir nichts voneinander gehört.
    Ein Mensch mit einer Sweatshirt-Kapuze stand hinter ihm und bohrte die Hände tief in die Hosentaschen.
    »Das ist Hans«, sagte Paul als er meinen Blick bemerkte, woraufhin die Kapuze, die ich schon eindeutig dem männlichen Geschlecht zugeordnet hatte, »hallo« sagte und sich einfach neben mich
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