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Lipstick

Lipstick

Titel: Lipstick
Autoren: Susanne Fuelscher
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versuchte, das rebellierende Ding zu beruhigen, und ihm vorschlug, es noch einmal unter anderen Konditionen mit mir zu versuchen, setzte sich mir ein Mann gegenüber, die U-Bahn fuhr an, und ich verguckte mich in seine Schuhe. Mokkabraunes Leder, matt, die Schuhspitze quadratisch, lederne Schnürsenkel, weder Stiefel noch Halbschuh, alles in allemerstklassige Qualität. Mein Blick wanderte langsam an seinen Beinen entlang nach oben. Die Hose soweit nichts Besonderes, grobes schwarzes Leinen, darüber ein grau-weißes Hemd, kariert und zerknittert, schon war ich bei seinem Gesicht, und mein Blick verhakte sich in seinem.
    Na und? sagte ich mir. Das macht dir jetzt gar nichts aus. Die Zeiten, in denen du solchen Augen auf der Stelle ausgeliefert warst, liegen schon lange hinter dir. Also schaute ich weg und konzentrierte mich einfach auf das vorbeifliegende Stadtgebirge und die paar mickrigen Bäume, die immerhin so nett waren, mir ein bißchen sommerliches Grün zu spendieren.
    Mit sechs hätte ich mein entsprechend jüngeres Gegenüber neugierig und ein bißchen ängsdich beäugt, mit zehn wäre ich aufgesprungen und weggerannt, mit dreizehn hätte ich mich rotgesichtig an den Arm meiner Freundin gepreßt und erbarmungslos gekichert, mit siebzehn cool aus Kontaktlinsen geschaut und eine phänomenale Kaugummiblase fabriziert, mit zweiundzwanzig verzweifelt versucht, eventuelle Lippenstiftkrümel aus den Mundwinkeln zu entfernen, mit fünfundzwanzig wäre mir mein Freund zu Hilfe gekommen, liebevoll hätte er seine beringte und behaarte Hand auf meine gelegt und »Schatz, die nächste müssen wir …« gesagt, und mit neunundzwanzig benahm ich mich genau wie mit zwölfeinhalb, wurde rot und hatte nicht mal eine beste Freundin dabei, die mir ihren Arm zum Kichern bot.
    Also raus. Ruhig aufstehen und zur Tür gehen, ohne auch nur einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Dann stand ich an der Hoheluftbrücke, wo ich nicht das geringste zu suchen hatte, und sperrte mein Selbstbewußtsein in den Keller. Ich wollte es nicht eher rauslassen, bis es sich beruhigen und mir ein vernünftiges Angebot machen würde.
    Natürlich hätte ich auf die nächste Bahn warten können, aber ich fand es plötzlich angebracht, zu Fuß zum Treffpunkt zu gehen. Zumal es der Sommer war, in dem ich beschlossen hatte, meinem Leben einen Sinn zu geben, und auf sich selbst wütend durch eine glühendheiße Stadt zu laufen war zumindest ein bißchen sinnvoll. Sinnvoller als meine Arbeit allemal. Ich war darauf abonniert,amerikanischen Serienhelden deutsche Wörter in den Mund zu legen, ein Dutzend Serien hatte ich schon abgearbeitet, flüsternd vorm Videorecorder gesessen, damit auch die Labiale hinhauten. Am liebsten hatte ich Jake aus dem Florida-Clan, den mit der Samtstimme und einem schwulen Augenaufschlag zum Verlieben. Daß er nicht sprechen konnte, fiel nur im Original auf, Gott sei Dank, niemals hätte ich Jaky-Boy als das entlarvt, was er tatsächlich war – als einen hundsmiserablen Schauspieler.
    Es gibt nur anderthalb zwingende Gründe, als Synchronfrau durchs Leben zu gehen: Der erste heißt Geld, der zweite Freiheit, was sich allerdings nur darauf bezieht, daß man es sich an einem hellichten Sommertag erlauben kann, Fischbrötchen essend durch die Gegend zu wanken und ein Café anzusteuern, in dem man zwecks Karriereschub einen Klassenkameraden von früher trifft. Meiner hieß Ralf. Ralf Witthusen. Lateincrack und Leistungsschwimmer – jetzt heuerte er für Geld Menschen an, die bereit waren, eben jene Fließbandstorys zu schreiben, zu denen ich normalerweise nur die Synchrontexte verfaßte, damit Jaky-Boys Lippenbewegungen auch noch paßten. Genaugenommen hatte ich zwar keinerlei Erfahrungen mit dem Seriengeschäft, dachte mir aber, was soll’s, was andere können, kannst du schon lange.
    Außerdem war es der Sommer, in dem der eine Teil der Menschheit sich vorgenommen hatte, den anderen Teil der Menschheit für dumm zu verkaufen, indem er auf allen Fernsehkanälen Seifenopern hervorzauberte, die von Stund an täglich wie das Amen in der Kirche über den Bildschirm flimmerten. Es war eine Seuche, die sich schon seit einiger Zeit angekündigt hatte, aber da es sich um eine unüberschaubar lange Inkubationszeit handelte, nahm man sie erst nicht ernst, und als bereits alle Sender infiziert waren, schaffte man es nicht mehr, die Notbremse zu ziehen. Gegenmittel unbekannt. Und während sich Forscher in aller Welt ihre Köpfe zermarterten,
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