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Auf den ersten Blick

Auf den ersten Blick

Titel: Auf den ersten Blick
Autoren: D Wallace
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Vorher
    Es passierte an einem Dienstag.
    Im Film würde es wahrscheinlich krawumm machen, aber es machte nicht krawumm .
    Nicht krawumm, nicht krawamm, weder peng noch ping oder pong.
    Nur ein gläsernes Aufblitzen, ein flüchtiger Moment, eine Sternschnuppe, die eisig blinkend durch die Geschichtsstunde fliegt.
    Die Dienstage sind für was anderes vorgesehen. Erst Geschichte, dann Kunst, nicht das .
    Ein kalter Schauer durchfuhr mich, als ich ihn sah. Seltsamerweise nahm ich das Wetter wahr. Diesen dünnen, grauen Regenschleier jenseits des alten, abgewetzten Geländers, jenseits der knorrigen Bäume.
    Es war wie im Traum, wenn man sieht, wie etwas passiert, etwas Schlimmes, das nie passieren dürfte, und die Knochen schwer werden und sich die Füße kaum noch heben lassen. Wenn alles, was man in den Nebel rufen will, verwischt und zu verwaschen wird, als dass es etwas nützen würde.
    Es wäre mir lieber gewesen, ich hätte geträumt.
    Wie soll man ihn nennen? Amokschütze? Klingt dramatisch, vor allem so früh in der Geschichte, aber das war er nun mal: ein Amokschütze. Drüben, auf der anderen Straßenseite, im neunten Stock ungefähr, zufrieden mit seinem ersten Schuss, spannte er den Hahn, lud durch, legte neu an, suchte sein Ziel.
    Amokschütze trifft es ganz gut.
    »Okay. Los! Raus hier!«
    Ruhig. Kurze, knappe Worte.
    » Sofort , wenn ich bitten darf!«
    Plötzlich stehe ich mitten im Raum. Es kommt mir vor, als könnte ich hier am meisten tun, aber was kann ich denn schon tun? Ich drehe mich und sehe mich noch mal um, da finde ich ihn.
    Er lacht. Sein Kumpel auch.
    »Wie? Wohin?«, sagte jemand, vielleicht Jaydeep oder der eine mit den Haaren, an dessen Namen ich mich nie erinnern kann. Jeder kennt ihn – die Lehrer nennen ihn Superfly. Instinktiv stellte ich mich vor ihn, sein pflichtschuldiger Hüter, als hätte er sich zur Zielscheibe gemacht, indem er eine Frage stellte.
    »Flur«, presste ich hervor, mein Nacken in ängstlicher Erwartung eines Projektils, mit gespielter Gelassenheit im Kampf gegen den Fluchtinstinkt. »Los!«
    »Hey …«, sagte jemand, »hey …«, und ich blickte auf und erkannte mein Entsetzen in ihren Gesichtern, während sie zu begreifen versuchten, was sie da sahen, was das alles zu bedeuten hatte …
    »Okay, sofort bitte, Anna …«
    »Sir …«
    Das Beben in der Stimme, die Angst … sie würde sich ausbreiten, jeden Moment.
    »Durch die TÜR !«
    Sie kamen in Bewegung, schockiert, doch schnell jetzt, so schnell, wie sich die Nachricht in der ganzen Schule verbreitete. So schnell, wie die Polizei eintraf mit ihren Waffen, ihren Autos und Hunden, ihren Helmen und Schilden. Da kamen die Kinder wieder zu sich, drängten an die Fenster, spähten durch eiserne Jalousien, während acht bis zehn bewaffnete Polizisten die Treppe im Alma Rose House hinauftrampelten, während ihre Kollegen draußen mit finsteren Mienen das Gebäude bewachten und nur darauf warteten, dass unser Amokschütze eine Dummheit beging.
    Die Kinder applaudierten, als man ihn herauszerrte. Applaus war das erste Anzeichen dafür, dass es vorbei war. Sie applaudierten den Polizeifahrzeugen, machten sich über die Bullen lustig und johlten, als der Hubschrauber kam … aber die Kinder hatten nicht gesehen, was ich gesehen hatte.
    Ich hatte den Raum 3 Gc als Letzter verlassen, würde ich Sarah später erzählen. Sie hatte am Laden gehalten, um einen Achterpack Stella und eine Flasche Rioja zu holen – das Einzige, was sie mir an Medizin verabreichen durfte –, und war dann sofort nach Hause geeilt, um bei mir zu sein, mit ihrem Arm auf meinem Arm und ihrem Kopf an meiner Schulter. Die Kinder seien zu keinem Zeitpunkt in Gefahr gewesen, erklärte ich ihr. Ich sei bei ihnen geblieben, während Anna Lincoln und Ben Powell zu Mrs Abercrombies Büro gelaufen seien, um Hilfe zu holen, obwohl Ranjit inzwischen schon 999 gewählt und wahrscheinlich auch bei Twitter eine Nachricht gepostet hatte.
    Aber ich war nur ein, zwei Sekunden länger im Klassenraum geblieben, um sicherzugehen, dass das alles auch real war, dass es wirklich sein konnte, dass er tat, was er da tat, oder ob ich überreagierte, wenn ich Alarm schlug.
    Doch da lachte er nur wieder. Und legte noch mal an.
    Nie war ich einsamer. Nie war ich mir meiner selbst bewusster. Was ich war, was ich nicht war, was ich wollte.
    Und wieder flog eine Sternschnuppe blitzend direkt an meinem Kopf vorbei, prallte gegen die Wand hinter mir und hüpfte und hopste und
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