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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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merkwürdige Verhalten der letzten Jahre, das war vielleicht schon Teil der Krankheit. Nur wussten wir es damals noch nicht.
    Nach einer Ewigkeit in der Notaufnahme tauchte der erste Arzt auf und klagte uns erst mal sein Leid: Wie sehr er das Oktoberfest und all die betrunkenen Verletzten hier verabscheue und dass er dieses oktoberfestnahe Krankenhaus ohnehin zutiefst hasse. Wenigstens darüber waren wir uns einig: Nach zweieinhalb Stunden hasste ich es auch aus vollem Herzen. Schließlich fragte er Mama, was das Problem sei, und sie sagte prompt: »Herr Doktor, wissen Sie – ich habe oft solche Schmerzen im rechten Bein!«
    Endlich stellte sich heraus, dass Mama eine Blasenentzündung hatte. Einfach nur eine harmlose Blasenentzündung. Doch selbst kleine Infekte können zu gesteigerter Verwirrung führen – die sich aber meist wieder einigermaßen gibt, wenn der Infekt ausgeheilt ist. Außerdem hatte sie wohl zu wenig getrunken und war deswegen total dehydriert, was dieselben Folgen hat – und sich ebenfalls wieder gibt. So ist das, besonders wenn man an Demenz leidet, meinte der Arzt.
    Demenz. Ich hatte es nicht gesagt, das schlimme Wort. Zumindest nicht so laut und deutlich, dass Ma es hätte hören können. Er hatte es gesagt. Jedenfalls: Jetzt war’s raus.
    » DEMENZ !«, wiederholte Ma in ihrer typischen Schwerhörigenlautstärke. » NA UND ?! In meinem Alter darf man doch wohl ein bisschen vergesslich sein!«
    Da wäre ich beinahe vor Überraschung vom Stuhl gefallen. Beim letzten Mal, als das Thema zur Sprache kam, hatte sie geschrien, getobt, auch geweint. Und alles bestritten. Aber offenbar hatte sie es endlich irgendwie akzeptiert.
    »Aber natürlich dürfen Sie ein bisschen vergesslich sein!«, erwiderte der Arzt. »Ich bin selbst oft ein bisschen vergesslich. Und jetzt bekommen Sie von uns Antibiotika und eine Infusion, und in ein paar Tagen geht es Ihnen wieder viel besser!« Dann kam meine Mutter auf Station, und als das Krankenhausbett mit dem Aufzug oben ankam, war sie eingeschlafen. Und alles schien gut.
    Bis auf die Tatsache, dass zu Hause auch schon alles schlief und ich nun sieben Tage lang weg sein würde. Dass meine Reisetasche noch ungepackt war und der Wecker für meinen frühen Flug in weniger als drei Stunden läuten würde. Dass ich auch sonst mal wieder nichts von dem erledigt hatte, was ich wollte, sollte und musste. Dass mein Sohn viermal auf die Mailbox meines ausgeschalteten Handys gesprochen hatte – zuletzt unter Tränen.
    Und natürlich, dass meine Mutter Demenz hat.

Diagnose Demenz oder: In meinem Alter darf man doch wohl ein bisschen vergesslich sein!
    S eit Mama dement ist, ist meine Welt voller Dementer: Kaum jemand aus meinem Bekanntenkreis, der nicht einen oder eine kennt oder sogar in der Familie hat. Vor ein paar Jahren saßen wir noch alle zusammen und haben über den Alltagswahnsinn mit den Kindern geredet. (Das tun wir nach wie vor, denn unsere Kinder sind noch ziemlich jung.) Jetzt reden wir auch noch über den Irrsinn mit den Alten: Andreas’ Stiefvater zum Beispiel, für den haben sie nun ein Heim gefunden, da gibt es sogar eine Bushaltestelle. Dort sitzen die Patienten gern und warten auf einen Bus, der niemals kommt. Oder Georgs Vater. Der pinkelt plötzlich vom Balkon und sagt: »Na und! Stand doch keiner unten!«
    Dabei ist Demenz nicht gleich Demenz: Die Mutter von Alex beispielsweise wird immer sonniger und ist stets bestens gelaunt. Wenn sie den Tag einfach nur im Sessel auf der Terrasse verbringen kann, dann ist sie absolut glücklich. Man muss nur aufpassen, dass es nicht schneit, damit sie da draußen nicht irgendwann erfriert.
    Früher, so kommt es mir vor, da war niemand dement. Zumindest nannte man es nicht so. Ich kann mich zum Beispiel noch gut an meine Oma erinnern, die Mutter meines Vaters, die wir Nürnberg-Oma nannten. Sie sah so aus, als wäre sie schon als Oma auf die Welt gekommen. In einem Alter, in dem Frauen heute noch schulterlanges Haar tragen, in dem sie tanzen gehen, sich frisch verlieben, tauchen lernen (wenn sie das wollen) und fast alles tun, was Dreißigjährige auch tun, da hatte sie bereits dicke, beige, faltenwerfende Stützstrumpfhosen an den Beinen und ließ sich das Haar beim Friseur in kurze graue Schafslöckchen legen. Sie buchte Butterfahrten in die Dolomiten und ließ sich dabei Heizdecken andrehen, und sie häkelte uns Enkeltöchtern Kleider, die wir nur trugen, wenn sie zu Besuch kam. So lebte die Nürnberg-Oma etwa
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