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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift
Autoren: Johanna Urban
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jetzt kocht sie sie immer nur mit Hackfleisch in sehr, sehr viel Öl. Abgesehen von fettigen Nudeln scheint ihr nur noch ein einziges weiteres Rezept einzufallen: Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln, tagein, tagaus. Kein Wunder, dass sie nicht mehr viel isst.
    Auch mit Mengenangaben und Summen schien sie Probleme zu bekommen: Ging man für sie einkaufen, dann drückte sie einem gern ein paar Hunderter in die Hand, einen nach dem anderen, für ein Kilo Bananen und eine Packung Klopapier. Und einmal besorgte sie acht Dresdner Marzipan-Stollen, weil wir uns zum Adventskaffee angesagt hatten. Dabei waren wir nur zu viert!
    Und dann die Sache mit dem Wasserschaden … Das war wahrscheinlich das Schlimmste. Die Leute von der Gebäudeversicherung machten kein großes Aufhebens, sie zahlten einfach, als Mama das ganze dreistöckige Mietshaus überflutete, aber trotzdem: Alle Nachbarn waren betroffen, und einen Monat lang liefen Trockenmaschinen im ganzen Haus!
    Aber natürlich war Mama nie schuld an irgendetwas, sie fand immer für alles eine Erklärung, eine Entschuldigung, eine Begründung, um zu vertuschen, dass sie einfach vieles vergaß: Angeblich war ein defekter Waschmaschinenzulauf verantwortlich für die Überschwemmung, und NATÜRLICH treffe Mama gar keine Schuld (was tatsächlich vorgefallen war, kam nie ganz raus – wahrscheinlich aber hatte sie einfach den Wasserhahn laufen lassen).
    Außerdem: Die fettige Soße mit Hack war plötzlich ein Spezialrezept vom Lafer aus dem Fernsehen. Und die übrigen siebeneinhalb Dresdner Stollen waren absichtlich zu viel, denn sie wollte später noch zum Frühstück davon essen (das reichte sicher bis Ende April).
    Und wenn ihr gar nichts zu ihrer Rechtfertigung einfiel, dann warf sie einfach den Kopf zurück und lachte laut heraus. Das klang dann immer ein bisschen so wie der verrückte Dr. No bei James Bond.
    Den Termin beim Neurologen hatte ich nach dem kleinen Vorfall mit dem Fernseher, den Mama mit der Wiederwahltaste des Telefons leiser stellen wollte, vereinbart. Übrigens tat sie das, während sie gleichzeitig mit ihrer Freundin Jule telefonierte. Zumindest dachte sie, dass sie noch mit Jule telefonierte. Tatsächlich hatte sie bei mir angerufen und immer wieder gleich aufgelegt (die Wiederwahltaste). Endlich erkannte sie, dass ich am Apparat war, aber irgendwie schien sie zu denken, Jule sei auch immer noch dabei: »Jule und ich versuchen gerade, den Fernseher leiser zu stellen, aber das verdammte Ding reagiert nicht«, tönte sie in den Hörer. Es war einigermaßen beunruhigend.
    Ebenso beunruhigend war, dass sie gar nicht recht registriert hatte, warum wir bald darauf zum Neurologen fuhren: Sie dachte, es ginge mal wieder um ihre Beine, so wie unlängst erst. Andererseits war ihre Ahnungslosigkeit auch ganz praktisch. Hätte sie gewusst, welchen Verdacht ich hatte, wäre sie kaum mitgekommen.
    »Weißt du, Mama, heute lassen wir mal einen kleinen Gedächtnistest machen«, bereitete ich sie erst im Wartezimmer vor. »Das ist ja bei allen älteren Leuten wichtig. Manchmal ist es ganz gut, wenn man sich dann bestimmte Vitamine und Tabletten verschreiben lässt und so.« Und bevor sie etwas erwidern konnte, wurden wir auch schon aufgerufen.
    »Nun«, sagte der Neurologe zu meiner Mutter, als wir gemeinsam vor seinem Schreibtisch saßen. »Sie haben also Probleme mit dem Gedächtnis?«
    »Was sagt er?«, wandte Mama sich an mich.
    »Haben Sie Probleme mit dem Gedächtnis?«, fragte der Arzt, diesmal lauter.
    »Absolut nicht«, strahlte Mama ihn an und war urplötzlich ganz wie früher: selbstbewusst, aufgeschlossen, einfach ganz normal. »Ich höre schlechter in letzter Zeit, aber sonst habe ich keine Probleme, zum Glück.«
    »Ach nein?«, fragte er verblüfft.
    »Also, da gibt es schon so ein paar Hinweise …«, ergriff ich das Wort, doch der Neurologe blickte mich so strafend an, als glaubte er, ich wolle Ma entmündigen lassen, um an das (nicht vorhandene) Erbe zu kommen. Darum verstummte ich.
    »Es gibt also keinerlei Probleme, zum Beispiel im Alltag?«
    »Sehen Sie, Herr Doktor, ich bin schon achtzig Jahre alt!«, sagte Mama und legte eine Kunstpause ein, um ihm die Gelegenheit zu geben, zu versichern, dass sie viel jünger aussehe – die er aber nicht wahrnahm. »Aber ich komme meinem Alter entsprechend wunderbar zurecht!«
    »Na dann! Das ist doch prima!«, sagte der Neurologe, und blickte wieder streng zu mir herüber. »Aber trotzdem machen wir jetzt mal ein
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